Rezension

Marionetten und mehr...

Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste - Thomas Hettche

Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste
von Thomas Hettche

Bewertet mit 4 Sternen

Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste - ein eindringliches Zeitportrait eingewebt in einen märchenhaft anmutenden Handlungsstrang...

Ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste im Foyer des Theaters eine kleine Holztür, öffnet sie und gerät wie Alice im Wunderland in eine Märchenwelt, in der viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer und viele andere. Vor allem aber trifft es dort Hatü, die Frau, die einst mit ihrem Vater all diese Marionettenfiguren geschnitzt und gebaut hatte und die eine große Geschichte zu erzählen hat: die Geschichte dieses einmaligen Theaters und der Familie, die es erfunden, gegründet und berühmt gemacht hat. Es ist die Geschichte eines deutschen Kultur-Mythos, die weit zurückreicht in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Theaters, im Lazarett einen Puppenschnitzer kennenlernt . . . 

Das 12jährige Mädchen ist sauer, als es mit dem Vater eine Vorstellung der Augsburger Puppenkiste besuchen muss. Sie ist doch kein kleines Kind mehr! Sie versteckt sich trotzig in einer Ecke im Foyer und entdeckt dort zufällig eine winzige Tür. Neugierig geworden, erforscht das Mädchen, was hinter der Tür liegt. Und sieht sich unverhofft auf einem Dachboden wieder, wo sie im Licht des Mondes auf 'alte Bekannte' tifft. Jim Knopf taucht plötzlich auf, ebenso wie die Prinzessin Li Si und Kater Mikesch. Die berühmten Marionetten der Augsburger Puppenkiste führen hier ein Eigenleben - und mitten unter ihnen ist Hatü, die Frau, die mit ihrem Vater Walter Oehmichen einst die Marionetten schnitzte und das Puppentheater zu einer landesweit bekannten Institution machte.

 

"Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht."

 

Der Handlungsstrang mit dem 12jährigen Mädchen bildet den Rahmen der Gegenwart für die eigentliche Erzählung. Hatü erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend, an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und das Nachkriegsdeutschland, an die Anfänge der Augsburger Puppenkiste und ihren nie erwarteten Ruhm durch die Auftritte im TV. Das Marionettentheater mit 'Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer', 'Urmel aus dem Eis', 'Kleiner König Kalle Wirsch' oder auch 'Eine Woche voller Samstage' sind aus vielen Kindheiten nicht wegzudenken. So gehören diese Aufführungen auch zu meinen nostalgischen Erinnerungen.

Ein eindringliches Zeitportrait stellt Thomas Hettche hier vor, lässt Hatü aus dem Dunkel treten, mit ihrer ewigen Zigarette, und erzählen. Der Dachboden, nur ein kleiner Kreis beleuchtet durch den durchs Fenster scheinenden Mond, wirkt dabei wie eine Bühne. Das Mädchen und mit ihm der Hörer tauchen tief ein in die Geschichte des berühmten Marionettentheaters. Die Marionetten selbst agieren auf dem Dachboden eher zurückhaltend, oftmals ebenfalls nur als Zuhörer. 

Was den Handlungsstrang der Gegenwart mit dem der Vergangenheit verbindet, ist die Figur des 'Kasper'. Entstanden ist diese Marionette in einem Ferienlager der Hitlerjugend - Hatüs erste selbst geschnitzte Marionette -, und stets ging für Hatü von ihr etwas Bedrohliches aus. Und tatsächlich verkörpert der Kasper auch auf dem Dachboden 'das Böse', was auch das Mädchen zu spüren bekommt. Es gilt schließlich, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen - doch wird das gelingen?

Eine leise Erzählung ist dieses Buch, Biografisches verwebt mit märchenhaften Elementen, mit der Betonung der Kraft der Fantasie in dunklen Zeiten. Düster oft die Stimmung, dann aber auch wieder bezaubernd. Traurig irgendwie das Bild der Marionetten und ihrer Erschafferin auf dem Dachboden - aber so ist es ja: die Augsburger Puppenkiste gehört nicht mehr zum sonntäglichen Nachmittagsprogramm der TV-Sender, sie ist wieder 'nur' ein Theater in Augsburg und damit ein Relikt, das man, wie es antiquarischen und ausgemusterten Dingen nun einmal geht, auf dem Dachboden wiederfindet, wo man ab und an herumstöbert. Weißt du noch?

Das Buch ist auf der diesjährigen Shortliste des Deutschen Buchpreises gelandet. Dazu der Kommentar der Jury:

"Leichthändig und elegant verwebt dieser Roman große Themen der Gegenwart und der deutschen Vergangenheit. Von einem verzauberten Dachboden aus führt er uns in die Welt der Holzmarionetten, in den Zweiten Weltkrieg, in die westdeutsche Nachkriegszeit, zum Verlust von Unschuld und dem Ende der Kindheit. Er handelt von der Fantasie und ihrer Rückeroberung – und Thomas Hettche gelingt dabei ein Stück Illusionskunst, die so spielerisch und melancholisch ist, wie jene, von der dieser Roman selbst so beeindruckend erzählt." 

Dem ist nichts hinzuzufügen...

Die ungekürzte Hörbuchausgabe (7 Stunden und 54 Minuten) wird den beiden Handlungssträngen entsprechend abwechselnd gelesen von Valery Tscheplanowa und Christian Brückner, die die leise und eindringlich-düstere Atmosphäre der Erzählung gekonnt transportieren.

Eine eindrucksvolle und interessante Wiederbegegnung mit der Augsburger Puppenksite...

 

© Parden