Rezension

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Meeresrand - oder ein Einblick in eine psychische Erkrankung

Meeresrand - Véronique Olmi

Meeresrand
von Véronique Olmi

Bewertet mit 3 Sternen

"Einmal sollen ihre Kinder das Meer sehen, das hat sie sich fest vorgenommen. Es ist ihre erste Reise, eine Reise in das Herz der Verzweiflung." (Quelle: Buchrückentext)
Das Cover dieses 2002 im Antje Kunstmann-Verlag erschienenen Buches zeigt eine Meeresküste bei ruhigem Wetter - der Inhalt jedoch ist eher bei Windstärke 9 im inneren Herzen der Verzweiflung anzutreffen - in "Aufruhr"... Es handelt sich um das Début der bekannten französischen Dramatikerin Véronique Olmi, die mit zahlreichen Preisen zwischenzeitlich ausgezeichnet wurde. 

Meine Meinung:
Sprachlich hat mich der Roman nicht fesseln können oder angesprochen: Es ist fast eine "einfache Sprache", in der die Autorin stilistisch wandelt, die jedoch thematisch hierdurch auch mit einer faszinierenden Eindringlichkeit aufwartet...
Es handelt sich um die düstere Beschreibung einer Frau, die unter Angst und Panikattaken leidet und durch ihre psychische Erkrankung mit der Versorgung ihrer Söhne Kevin (5) und Stanley (9) überfordert ist. Sie fühlt sich außerhalb der Gesellschaft stehend, ist gezwungen, von Sozialhilfe zu leben und erhält öfters Besuch von Sozialarbeiterinnen. Einerseits möchte sie eine liebevolle Mutter sein - und so sein wie die anderen, andererseits schafft sie dies nicht, da die "dunklen Strudel" sie immer wieder in die Tiefe hinabziehen, wobei sie zuweilen den ganzen Tag nur im Bett verbringen kann und ihre Jungs sich selbst versorgen müssen....Der Größere übernimmt teilweise die Rolle der Mutter und gibt acht auf seinen kleinen Bruder. Die Mutter, die sonst nicht zu Planungen fähig ist, plant eine Reise und fährt mit den zwei Jungs in eine kleine Stadt am Meer, bei Nacht und Nebel, damit "niemand sie sieht". Der Text ist wie gesagt sehr einfach und deutlich gehalten und beschreibt die Gefühle der Mutter, wenn eine Panikattacke "anrollt" und sie sich kaum dagegen zur Wehr setzen kann: Die Welt erscheint lebensfeindlich und die  - namentlich nicht genannte - Mutter nimmt an, dass ihr Schicksal auch das ihrer beiden Jungs werden wird: Hier liegt das Motiv für ihr Verhalten, denke ich: "Damit die Welt nicht nach ihnen (den Jungs) greift, besser gesagt die "Feindseligkeit" der Welt" und sie keine Kälte, Schamgefühle, auch Wut erleiden müssen, überlegt sie sich etwas anderes für die beiden - damit ihnen letzteres erspart bleiben wird....
Véronique Olmi ist als Dramatikerin in Frankreich eine hoch angesehene Autorin und in ihrem Début "Meeresrand" sehe ich die Verletzlichkeit des Menschen, aber auch die Erkrankung einer von Ängsten und Panikattaken gepeinigten Mutter sehr authentisch portraitiert: Da ihre Ängste und ihr "Anders sein" stärker sind als ihr Wille und ihre Fähigkeit, "zu sein wie die anderen", sieht sie für sich keine andere Möglichkeit, ihre Söhne vor der "Feindseligkeit der Welt" zu retten und das Familiendrama nimmt seinen Lauf.....

Fazit:Ein sehr verstörender, dramatischer Roman, der viele Fragen nach dem "warum?" für mich aufwirft - und sie offen lässt: Ich hätte mir mehr Informationen über die Vorgeschichte der Mutter von Kevin und Stan gewünscht, da sie vermutlich der Schlüssel zum Verstehen dieses Dramas ist. Ein Versuch literarischer Annäherung an eine (verbreitete!) psychische Erkrankung: Ein erschütternder, nachdenklich stimmender, gesellschaftlich reflektierender, aber auch lesenswerter Roman!Ich vergebe 3 Sterne und 75° auf der Werteskala.