Rezension

Mehr Roman als Thriller

Vor ihren Augen - Mary L. Kelly

Vor ihren Augen
von Mary L. Kelly

Caroline Cashion ist 37 Jahre alt, Professorin für französische Literatur, Single und glücklich über die enge Beziehung, die sie zu ihrer Familie hat. Doch dann stellt eine Untersuchung, die sie wegen ihres schmerzenden Handgelenks machen sollte, ihr ganzes Leben auf den Kopf. In ihrem Nacken steckt eine Pistolenkugel, die auf sie abgefeuert wurde, als sie drei Jahre alt war. Ihr leiblichen Eltern Sadie und Boone wurden erschossen, der Täter wurde nie gefasst und die Cashions haben sie damals adoptiert. Caroline ist die einzige Augenzeugin, die Patrone in ihrem Nacken das einzige Beweismittel. Sie ist wild entschlossen, den Fall neu aufrollen zu lassen und den Mörder ihrer Eltern zu finden.

Vor ihren Augen fängt sehr ruhig und mit einer interessanten Erzählperspektive an. Caroline Cashiion ist eine Ich-Erzählerin, was an sich nichts Besonderes ist, aber sie spricht mit dem Leser, redet ihn immer wieder direkt an. Als säße Caroline mit dem Leser in einem Pariser Café, vor sich einen Kaffee und ein Crossaint, und erzähle ihre Geschichte. Je weiter die Geschichte voran schreitet, desto mehr nimmt dieses ungewöhnliche Element ab. Leider.

Die Bezeichnung "Thriller" finde ich etwas gewagt, denn sie weckt Erwartungen, die Vor ihren Augen nicht erfüllen kann. Es ist eher ein Roman mit minimalen Thriller-Elementen. Im Vordergrund steht eher das Thema Geschwisterliebe, Adoption, der Umgang mit der eigenen Identität und was man tut, wenn diese plötzlich infrage gestellt wird. Es geht darum, dass Caroline mit ihrer Vergangenheit abschließen möchte, um endlich nach vorne schauen zu können. Sie möchte den Fall lösen, sie will Gerechtigkeit. Gegen Ende des Buches geht es auch stark um Rache und Selbstjustiz. Aber obwohl Caroline sich verfolgt fühlt und bei ihr eingebrochen wird, kommt zu keinem Zeitpunkt das Gefühl auf, einen Thriller zu lesen. Dafür ist die Bedrohung nicht greifbar genug, sofern sie denn überhaupt vorhanden ist. Die Geschichte bietet einfach keine Thrillerspannung, es geht viel mehr um die Entwicklung der Protagonistin. Leider ist auch sehr schnell absehbar, wer Carolines Eltern damals ermordet hat, weshalb diese 'Überraschung' am Ende für mich keine war.

Vor ihren Augen ist als Roman nicht schlecht, Carolines Geschichte und ihre Veränderung sind interessant, wenn auch sehr extrem. Ihre plötzliche Veränderung auf den letzten 80 Seiten ist geradezu erschreckend und nicht ganz nachvollziehbar. Dass sie plötzlich so abgebrüht und professionell agiert, war für mich nicht schlüssig. Das passt nicht zu dem Bild, das ich von ihr hatte: Aus einer Art Familiendrama wird auf den letzten 80 Seiten plötzlich eine Art "Die Bourne Identität" - nur ohne die Action und Spannung.
Die anderen Figuren bleiben leider extrem blass, weder von Will Zartmann, noch von Ethan, Beamer oder Carolines Brüdern konnte ich mir ein gutes Bild machen.

Wenn er auch als Roman ganz okay ist, als Thriller taugt Vor ihren Augen überhaupt nicht. Bei der Kombination aus "Thriller" und dem Klappentext habe ich eine völlig andere Geschichte erwartet und war dementsprechnd auch sehr enttäuscht darüber, wie langatmig, ereignislos und spannungslos Vor ihren Augen ist. Aus der Premisse hätte man viel mehr herausholen können.  

(c) Books and Biscuit