Rezension

Mein Highlight 2016

I Saw a Man - Owen Sheers

I Saw a Man
von Owen Sheers

Bewertet mit 5 Sternen

Michael Turner wurde als Autor bekannt mit seinem Buch über zwei aus der Dominikanischen Republik eingewanderte Jungs und ihr Viertel Washington Heights/New York. Seine Frau Caroline ist Kriegsreporterin für einen Londoner Fernsehsender. Als "eingebettete" Journalistin mit den Kriegsschauplätzen des 20. und 21. Jahrhundert vertraut, lebt Caroline für das Tagesgeschäft. Zwei Partner wie Feuer und Wasser ziehen gemeinsam in ein beschauliches Häuschen in Wales: Caroline, die ehrgeizige Reporterin, "wie ein Komet, der nur einmal eine Nacht erhellen würde" (S. 16) und der ruhige Michael, der sorgfältig recherchiert und sich um professionelle Distanz bemüht.

Michael findet an einem drückend heißen Londoner Sommertag die Hintertür des Nachbarhauses unverschlossen vor. Ist bei den Nelsons eingebrochen worden? Hat Michael selbst etwa psychische Probleme? Seine Ehe mit Caroline und das Haus in Wales sind längst Vergangenheit. Caroline ist bei einer Reportage ums Leben gekommen und in Michaels Leben gibt es seitdem zu viele Bereiche, die er nicht mehr betritt, weil sie ihn zu stark an Caroline erinnern. "Er hatte nicht nur [Caroline] verloren, sondern auch den Mann, zu dem sie ihn gemacht hatte" (Seite 56). Zu gemeinsamen Freunden hält der Witwer Distanz, von Heilung kann für Michael noch lange keine Rede sein. Obwohl Michael von einer Trauerberaterin unterstützt wird, hat er Carolines Tod noch lange nicht verarbeitet. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er therapeutische Hilfe bräuchte. Die Handlung der Gegenwart treibt vorwärts, die Rückblende bremst das Erzähltempo gleichzeitig aus. Wie in einem Krimi möchte man wissen, was bei den Nelsons passiert ist, benötigt dazu jedoch die Vorgeschichte. Je weiter man in die Beziehung des Paars und der befreundeten Nachbarn vordringt, umso unheimlicher und bedrohlicher wirkt die noch immer offen stehende Hintertür der Nelsons.

Rückblenden entfalten akribisch die Vorgeschichte. Owen Sheers taucht tief in Michaels Selbstverständnis als Autor ein, dessen New Yorker Stadtviertel sich draußen gentrifiziert, noch während er drinnen als Chronist seine Reportage über die Einwanderer Nico und Raoul schreibt. Michaels Rückkehr nach London erfolgt auch aus seinem Eingeständnis heraus, dass sich der Erfolg seines ersten Buches kaum wiederholen lassen wird. Caroline zieht nur formal nach England, als Zugeständnis für ihre Ehe, sie ist weiter in aller Welt unterwegs. Die gemeinsame Berufung zum Schreiben gleicht die gegensätzlichen Temperamente der Partner nicht aus, wie man vermuten könnte, sondern polarisiert die Beziehung.

Seine Nachbarn lernt Michael kennen, weil Carolines Kollege ihm seine Londoner Wohnung in Hampstead Heath untervermietet. Es entsteht 'die Illusion einer langjährigen Freundschaft" (S. 74). Michael wird zum brüderlichen Freund von Samantha und Josh, ihren Töchtern eine Art Patenonkel. Die Dreierbeziehung der Erwachsenen wirkt fragil; denn der Banker Josh trinkt zu viel und in die Ehe der Nelsons haben sich scharfe Töne eingeschlichen. Samantha und Michael verbindet unbewusst, dass beide auf der Flucht vor der Vergangenheit sind. Obwohl die Männer nicht sehr gut zusammenpassen, joggen sie von nun an gemeinsam und Michael hält sich immer öfter im Nachbarhaus auf. Mit der Entfaltung des Psychogramms wächst die Zahl möglicher Gründe, warum diese Dreierbeziehung in einer Katastrophe enden könnte.

Die Ereignisse werden manchen Leser schockiert nach Luft schnappen lassen, mancher wird das Buch deshalb ablehnen. Man sollte den Roman nicht gerade lesen, wenn man selbst aktuell krank oder belastet ist. Doch die schockierende Vorgeschichte wird von Owen Sheers außerordentlich brillant beschrieben. Seine Beobachtungen des Beziehungsgeflechts bestehen aus Bild, Ton und Geruch, wenn er die befreundeten Männer z. B. in ihrer Körperlichkeit als Sportler beschreibt. Neben den politischen Ereignissen im Hintergrund ist das Hauptthema Trauer, in der besonderen Form, in der Männer trauen. Wie in einem komplizierten Uhrwerk greifen die Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Überleben Hinterbliebener nach einem Todesfall wie Rädchen ineinander.

Wenn ich einen Literaturpreis zu vergeben hätte, stände Owen Sheers oben auf meiner Liste und auch auf die berühmte einsame Insel würde ich das Buch wegen seiner brillanten Beschreibungen mitnehmen. Lesern von literarisch anspruchsvollen Psychothrillern empfehle ich es mit Überzeugung.