Rezension

Nachtigall, ick hör dir trapsen

Nachtigall im Winter - Ralph B. Mertin

Nachtigall im Winter
von Ralph B. Mertin

Denver (USA), 1959: Der Reporter Harry Brydan beobachtet eine Beerdigung. In seinem Auto sitzt ein »Gast«. Dieser Unbekannte saß 8 Jahre im Gefängnis und berichtet ihm nun über die mysteriösen Vorkommnisse, die sich 1950 im Waisenheim abgespielt haben. Wer dieser Unbekannte ist, stellt sich am Ende des Romans heraus.

Waisenheim Königspfalz (Deutschland), 1950: Kurz nach dem zweiten Weltkrieg tritt der charismatische Choran seine Stelle als Geschichtslehrer im Waisenheim an. Der Zustand dort ist katastrophal. Auch der Zusammenhalt der Kriegswaisen lässt zu wünschen übrig. Besonders zwischen den Gruppen »Nachtigall« und »Winter« herrscht Rivalität. Denn der Gruppe »Nachtigall«, die von dem Französischlehrer Peter Leyss geleitet wird, scheint es besser zu gehen als den anderen Gruppen. Den Heimleiter Direktor Köhler interessiert das herzlich wenig. Er ist nur um sein eigenes Wohl besorgt. Choran möchte etwas an der Situation ändern und wird zusätzlich als Leiter der Gruppe “Winter” eingesetzt. Die traumatisierten Jugendlichen vergöttern ihn für seine unkonventionelle Art und seine Selbstlosigkeit. Doch Choran ist gar nicht so selbstlos, wie es zuerst scheint.

Zentrales Thema des Romans ist der bedrohliche Sog von Gruppendynamik und seinen Konsequenzen. Die Hauptfiguren in diesem Kampf sind der Streber Felix Rosen, der Außenseiter Chris Weber, der Mitläufer Martin Hoffmann, der Anführer der Wintergruppe, Alexander Roth und der beschwichtigende Hausleiter Choran. Die aggressive und bedrückende Grundstimmung, die zwischen den Gruppenmitgliedern herrscht, bringt der Autor perfekt rüber. Man leidet mit den Mobbing-Opfern und verachtet die Raufbolde. Durch Chorans Einfluss entwickeln sich manche Charaktere allerdings in eine andere Richtung und unser Mitgefühl auch. Man kann sich mit keinem identifizieren und nimmt die Rolle des stillen Beobachters ein. Was aber auch nicht weiter schlimm ist.

Des Weiteren gibt es noch das Thema Konkurrenzkampf. Da die Nachtigall-Gruppe mit Abstand die besten Noten hat und bevorzugt wird, entsteht Neid in der Winter-Gruppe. Choran stichelt seine Schützlinge regelrecht an, sich gegen ihre Rivalen durchzusetzen und bringt dadurch schockierende Verhaltensweisen bei den Jugendlichen zum Vorschein. Doch dieser Kampf besteht auch zwischen Choran und dem Französischlehrer Peter Leyss. Jeder will der Bessere sein.

Ralph B. Mertin entführt uns in eine isolierte Internatswelt, in der eigene Regeln herrschen. So lebhaft dargestellt, dass man denkt, man wäre ein Teil davon. Zudem wird diese düstere Internatswelt von mystischen Einflüssen überschattet, die wahrscheinlich nicht jedermanns Sache sind. Die unvorhersehbaren und überraschenden Wendungen sorgen für die entsprechende Spannung. Allerdings wird dieser Spannungsbogen gelegentlich durch Chorans ausschweifende philosophische Ausführungen unterbrochen. Nichtsdestotrotz ist dieser Thriller eine gelungene und interessante Mischung.

Fazit: Für Freunde des Action- oder Gruselthrillers ist der Roman wahrscheinlich nichts. Vielmehr wird der Roman die ansprechen, die Gefallen an mystischen Elementen und an der Komplexität der menschlichen Psyche haben.