Rezension

Neunmal vergnüglich-nachdenkliches Lese.

Die steinerne Matratze - Margaret Atwood

Die steinerne Matratze
von Margaret Atwood

Bewertet mit 4 Sternen

Mordende alte Damen, Hochstapler oder ein gefriergetrockneter Bräutigam – Margaret Atwoods Fabulierlust ist grenzenlos. Scharfsinnig und voller Wagemut schlägt sie uns in diesen neun kraftvollen Erzählungen in ihren Bann und öffnet den Blick auf unsere dunkelsten Triebe und Begierden. (vom Buchrücken kopiert)

1. Alphinland / 2. Wiedergänger / 3. Dark Lady
Drei Erzählungen, die inhaltlich durch einzelne Figuren lose miteinander verbunden sind.
1. Constance, verwitwet, gehbehindert, beweist sie ihre Selbstständigkeit und trotzt ihrem Alltag. Als Autorin einer Fantasyreihe wurde sie nach bewegten Jugendjahren erfolgreich. Sie rächt sich an untreuen Freunden, v.a. an dem Lyriker Gavin, und anderen missliebigen Zeitgenossen auf eine besondere Weise.
2. Gavin, inzwischen zum dritten Mal mit einer wesentlich jüngeren Frau verheiratet, ist alt und gebrechlich geworden. Die Tage seiner Erfolge sind vorüber, und der einst so wichtige und ausgelebte Sexualtrieb hat sich in seinen Kopf zurückgezogen.
3. Jorrie liebt es, zu Beerdigungen zu gehen, und ihr Zwillingsbruder Tin, mit dem sie seit Jahrzehnten zusammen lebt, muss sie stets begleiten. Nun ist ein Mann gestorben, dessen Muse sie gewesen zu sein glaubt. Beim Leichenschmaus wird sie mit der Wirklichkeit konfrontiert.

Schriftsteller schreiben gerne über Schriftsteller. Atwood bildet da keine Ausnahme. Mit spitzer Feder karikiert sie auf der einen Seite eine populäre Autorin, auf der anderen Seite einen Lyriker, der von seiner hohen Warte als „ernsthafter“ Dichter auf die belletristische Unterhaltungsliteratur blickt. Doch: Was bleibt am Lebensende? Von den Erinnerungen, dem Vergnügen und der Literatur?

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Lusus Naturae:
„Lusus Naturae“ sind Lesewesen, die nicht in die normale Klassifikation eingeordnet werden können, also Fabeltiere, aber auch Missgeburten. Um eine solche handelt es sich bei der Ich-Erzählerin. Das hübsche Kind verwandelte sich in ein monströses Geschöpf mit gelben Augen, roten Zähnen und Haarwuchs am ganzen Körper. Zunächst wird sie von ihrer Familie versteckt, später für tot erklärt.

Eine tragische Schauergeschichte, bei der der Leser zwischen Abscheu und Mitleid schwankt. Nein, begegnen möchte man der Protagonistin nicht, auch wenn sie zutiefst menschlich empfindet.

Der gefriergetrocknete Bräutigam
Sam, Mitbesitzer eines Trödelladens mit nicht immer einwandfreien Geschäftsgebaren, erlebt einen schwarzen Tag: Seine Frau will sich scheiden lassen, sein Auto springt nicht an, er erhält bei einer blinden Auktion den Zuschlag auf einen verwaisten Lagerraum. Was er findet, scheint der krönende Abschluss dieses Tages, ist es aber noch nicht.

Schon die äußere Handlung dieser Erzählung ist haarsträubend, vollends verrückt wird sie durch die „Stimmen“ in Sams Kopf, die ihn darüber aufklären, wie eine Ermittlung ablaufen müsste, in der sein Verschwinden aufgeklärt würde.
Eine herrliche Groteske!

Bezaubernde Zenia
Laut den Worten der Autorin im Dank schrieb sie die Geschichte für das kanadische Magazin „The Walrus“, als die Aufgabe lautete, eine Figur aus einem früheren Roman auferstehen zu lassen.
Atwood entschied sich für Zenia, die „Räuberbraut“. Zenia ist bekanntlich tot; übrig geblieben sind die drei Freundinnen, inzwischen alt geworden, aber immer noch dieselben wie früher. Die Wunden, die Zenia ihnen schlug, wirken fort. Vielleicht haben sie dennoch etwas gelernt über die Zuverlässigkeit der Männer.

Warum Atwood sich ausgerechnet für eine ihrer schwächeren Protagonistinnen entschieden hat, weiß nur sie. Vielleicht geht es ihr eher um das Thema „Frauenfreundschaften“, über das sie bereits in etlichen Variationen geschrieben hat. Diesmal: Freundschaft im Alter.

Die tote Hand liebt dich
Jack, ein Student, schrieb eine Gruselgeschichte, vereinbarte mit Freunden, denen er Geld schuldete, vertraglich, die Tantiemen zu teilen. Was als Spielerei begann – niemand glaubte an Jacks Erfolg -, wird zur dunklen Wolke über Jacks Leben, denn sein Buch und die verkauften Rechte könnten ihn reich machen, wären da nicht seine alten Freunde.

Eine Geschichte in der Geschichte, denn Jacks Hader umrahmt seine Gruselstory über die Hand eines Toten, die die untreue Geliebte verfolgt. Auch Jacks Leben scheint sich auch in eine Schauergeschichte zu verwandeln, falls er seine bösen Pläne in die Tat umsetzt.

Die steinerne Matratze
Verna, eine geübte Gattenmörderin, begegnet auf einer Kreuzfahrt Bob, der sie als Jugendliche vergewaltigte. Aber, wie gesagt, im Morden ist sie geübt.

Die Geschichte lebt von den emotionalen Rückblenden auf Vernas Erlebnis und der ironisch-sachlichen Mordplanung. Obwohl inhaltlich abgeschlossen, vertändelt sie sich am Ende.

Fackelt die Alten ab
Die fast blinde Wilma kann sich ein Seniorenheim der höheren Preisklasse leisten. Eine neue Protest-Welle schwappt über das Land: Junge Leute demonstrieren gegen das Überleben der Alten, sie fackeln Altenheime ab, hungern sie aus und bedrohen die Angestellten.

Düstere Zukunftsvisionen, auch kein Neuland für Atwood. Man findet hier eine ähnlich beklemmende Atmosphäre wie im „Report der Magd“.

Atwoods Protagonisten altern mit ihrer Erschafferin: Aus den jungen Leuten wurden irgendwann Menschen in der Mitte ihrer Jahre, in diesem Buch gehören sie zu den Alten, die im letzten Drittel ihres Lebens stehen.

Atwoods Romane gehören heute zu den Klassikern der Gegenwartsliteratur. Sie arbeitet vielfältig über Genregrenzen hinweg und beweist dies auch mit ihren Erzählungen, die, jede für sich, durch Originalität des Themas, der Figuren oder der Handlung erfreuen, erheitern, nachdenklich machen, amüsieren, berühren, …
Seit Jahren warte ich darauf, dass bei der Literaturnobelpreis-Bekanngabe ihr Name genannt wird. Sie würde ihn verdienen.