Rezension

"Nur" drei Wochen

Zerbrochene Welt - Ernö Szép

Zerbrochene Welt
von Ernö Szép

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Wahrscheinlich ertrage ich all das, was ich täglich sehen, hören und leiden muss, nur deshalb, weil ich gar nicht richtig glauben kann, was hier vor sich geht. Ich glaube es nicht, weil Menschen solche Dinge doch eigentlich nicht fertigbringen.“
Am Morgen des 20. Oktober 1944 muss der sechzigjährige Erno Szép den Marsch in ein Arbeitslager nahe Budapest antreten. Seine Beobachtungen und Erlebnisse in den folgenden 19 Tagen hält er in dem vordergründig leichten, eleganten und damit umso verstörenderen Ton des Feuilletonisten fest. Ungläubigkeit spricht aus seinen Zeilen, mit ironischer Distanz versucht er den alltäglichen Demütigungen zu begegnen, um seine menschliche Würde zu bewahren.
Mit einem Nachwort von Prof. Paul Lendvai und Anmerkungen von Ernö Zeltner. (Verlagsseite) 

Ernö Szép wurde 1884 in Huszt geboren (heute zur Ukraine gehörig). Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Noch als Schüler kam er nach Budapest, wo er sich mit Gelegenheitsgedichten bei verschiedenen Zeitungen sein Brot verdiente. Sein erstes Gedichtbändchen erschien, als er achtzehn war. Mit seinen Gedicht- und Erzählbänden, Beiträgen und Glossen in Zeitungen und Zeitschriften, Theaterstücken, Chansons und Kabaretttexten gehörte er bald zu den Prominenten des literarischen Lebens der Hauptstadt. Nicht zuletzt auf Grund seiner sechs Romane gilt Szép als einer der Mitbegründer der ungarischen Moderne. 1944 wurde er als Jude zunächst in einem der »geschützten« Budapester Sternhäuser interniert und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Wie viele andere jüdische Prominente erhielt er einen sogenannten schwedischen Schutzpass und überlebte in einem der sogenannten Sternhäuser den Krieg. Nach 1945 konnte er nur noch wenig publizieren, in der »neuen Zeit« fand er sich nicht mehr zurecht. Aufgrund seines bürgerlichen Hintergrunds wurde er 1949 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Verarmt, krank und nahezu vergessen starb er 1953 in Budapest. Sein Werk erlebt derzeit in Ungarn eine Renaissance. (Verlagsseite, gekürzt)

Tagebuchberichte, die aus der Erinnerung verfasst wurden.
223 Seiten Erzähltext, Anmerkungen, Nachwort von Paul Lendvai „Ouvertüre zu einer Tragödie“, insgesamt 238 Seiten 

„Ich höre nicht zum ersten Mal, dass in Deutschland Juden in Gaskammern erstickt werden, konnte es aber bisher nicht glauben. Ich glaube es auch heute noch nicht. Mein Bewusstsein sträubt sich gegen solchen Horror, …“ (S. 58) 

Bei den literarischen Zeugnissen verfolgter Juden während der Nazizeit steht ein Rezensent oft vor einem Dilemma: Hier die Betroffenheit – dort der literarische Anspruch. Mit diesem Problem plagt man sich bei diesem Buch nicht. 
Paul Lendvai erklärt in seinem Nachwort, dass die Geschichte der ungarischen Judenverfolgung bis heute weder politisch noch historisch aufgearbeitet sei. Kein Wunder also, dass man auch hierzulande wenig von den Naziverbrechen dort weiß. Die Budapester Juden wurden in sogenannte „Sternhäuser“ verbannt, eine Art Ghetto, das aber - anders als das Warschauer Ghetto - offen war; lediglich die zeitliche Ausgangssperre wurde streng kontrolliert. Man lebte auf engem Raum; Verwandte zogen zu ihren Familien, die persönlichen Räume oft nur durch Vorhänge voneinander abgetrennt. Trotz Verboten besuchten sich die Nachbarn untereinander, diskutierten, verbreiteten die Nachrichten von BBC. Szép erzürnt vor allen die Verdunklungspflicht: Nach Einbruch der Dämmerung ist Lesen nicht mehr möglich. 
Die Macht in der Stadt gehört den deutschen Besatzern und ihren ungarischen Schergen. Man schreibt den Herbst 1944, die Russen rücken immer weiter westwärts, Szép ist 60 Jahre alt. Dank eines schwedischen Schutzpasses fühlt er sich relativ sicher.

Am 20. Oktober haben sich die jüdischen Männer vor dem Haus zu versammeln; sie werden abgeführt und kommen nach einem dreitägigen Fußmarsch (wenige kurze Pausen, kein Wasser) in dem Arbeitslager Erdövarós an.
Szép nimmt den Leser mit; er stellt ihn an seine Seite, so dass man beinahe am eigenen Körper die verkrampften Beine spürt, die schmerzenden Füße und die Ohnmacht des Immer-Weiter-Schleppens. 
Die Unterbringung ist menschenunwürdig: Eine Baracke, der Boden mit verfaultem Heu bestreut, kein Platz zum Schlafen für so viele, geschweige denn für Rucksäcke, Koffer und persönlichen Gegenstände. Tagsüber wird der Trupp, zu dem viele über 60-jährige gehören, zum Bau von Panzersperren und Schützengräben gezwungen. Bei jedem Wetter und beaufsichtigt von ungarischen Milizen.
Szép erzählt von Barbarei und Menschlichkeit, von brutalen Kriegsknechten und höflichen Militärangehörigen, von Kameradenschweinen und kultiviert-gebildeten Mitgefangenen. Es sind vor allem die kleinen Gesten und Handlungen, mit denen die jüdischen Zwangsarbeiter ihre Würde bewahren, und die den Leser berühren: Ein Koch, der aus kümmerlichen und halb verdorbenen Lebensmitteln schmackhaftes Essen zubereitet. Ein Mann, der seine Schuhe putzt. Und Szép, der in sein Notizbuch schreibt. 

Erstaunlich, wie Szép die Ironie aufbringt, mit der er Mitgefangene, Bewacher und sich selbst betrachtet. „Ach wie gut sie es alle haben, die Schmetterlinge, Pappeln, Birken, die weidenden Kühe, sie müssen keine Juden sein!“ (S. 107/108) 

Es sind „nur“ 19 Tage, die Szép im Lager verbringt. Doch beim Lesen entsteht der Eindruck, die Zeit dort sei unendlich viel länger gewesen.

Fazit: Ein Buch, das leichter erträglich ist als die meisten Berichte aus den Lagern, aber dennoch durch seine Unmittelbarkeit unter die Haut geht.