Rezension

Packender Roman über die Anfänge der DDR

Der Diversant - Andree Hesse

Der Diversant
von Andree Hesse

Bewertet mit 4 Sternen

Wirkungsvoll und zugleich beängstigend gibt Andree Hesse mit Der Diversant einen spannenden, düsteren Einblick in ein Kapitel deutscher Geschichte, das viel zu selten literarisch beleuchtet wird.

Aus Leichtsinn zum Staatsfeind

Als Mensch, der in ein vereintes Deutschland hineingeboren wurde oder zumindest die Zweistaatigkeit als Kind nur am Rande miterlebt hat und in einem Bewusstsein des Europas ohne Grenzen aufgewachsen ist, dieses im Alltag oder auch nur im Urlaub lebt, ist die Welt der deutschen Teilung kaum vorstellbar. Entgegengesetzte Ideologien, diametrale Ausrichtungen mit verfeindeten Verbündeten, eine Grenze, die zunächst nur patrouilliert, dann mit einer Mauer oder gar Panzern geschützt wurde – all das erscheint selbst beim Spaziergang entlang der (heute künstlerisch gestalteten) Berliner Mauer vollkommen irreal.

Die vollständige Rezension unter https://buecherherbst.wordpress.com/2017/04/17/rezension-andree-hesse-der-diversant/?frame-nonce=f71359c39a​

Andree Hesse versucht in Der Diversant, diesen Teil der deutschen Geschichte ein Stück greifbarer zu machen. Er erzählt die wahre Geschichte seines Onkels – so wird es zumindest in dem an die Geschichte anschließenden Epilog dargelegt -, der in den 1950er Jahren in der DDR aufwuchs. Es ist eine Zeit, in der der Zweite Weltkrieg erst wenige Jahre vorüber war, die meisten Menschen die Erinnerung daran verdrängen wollten und die beiden frisch gegründeten deutschen Staaten stellvertretend für die ideologischen Systeme um die Vormacht in der Mitte Europas rangen; die einen dem Kommunismus zugeneigt, die anderen der westlichen, marktwirtschaftlich geprägten Demokratie. Beide Gesellschaften waren noch jung und auf der Suche nach der eigenen Identität.

In der gleichen Phase befindet sich Meiner, der Ich-Erzähler. Während die Gesellschaft ihm keinen Halt geben, versucht er seine Position im Leben zu finden. Die meisten Menschen in seiner Umgebung haben tiefe Wunden von den beiden Weltkriegen davongetragen, physisch oder mindestens psychisch. Da ist beispielsweise Bauer Grothe – bei ihm hütet Meiner als Zehnjähriger in den Ferien die Schafe -, der nur noch ein gesundes Bein hat, da ihm das andere zerschossen wurde; Meiners Opa wurde bereits im Ersten Weltkrieg durch ein Bajonett am Kinn verletzt; sein Vater erlitt im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront einen Kopfschuss, woraufhin ihm die Schädeldecke ersetzt werden musste und er dauerhaft halbseitig gelähmt ist.

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Wirkungsvoll und zugleich beängstigend gibt Andree Hesse mit Der Diversant einen spannenden, düsteren Einblick in ein Kapitel deutscher Geschichte, das viel zu selten literarisch beleuchtet wird. Die unmittelbare Nachkriegszeit aus ostdeutscher Perspektive ist im Vergleich zur überdrüssig abgehandelten Nazizeit oder auch den späteren Jahren der DDR, insbesondere jenen rund um die Wende, ein unbedrucktes Blatt Papier. Hesse verzichtet – glücklicherweise – darauf, den Westen rein als Sehnsuchtsort und einzigen Ausweg aus der sich immer stärker abschottenden DDR darzustellen. Wer innerhalb des ostdeutschen Systems aufwuchs, konnte zumindest dann ein akzeptables Leben führen, wenn er nicht zu stark ausgeschert und vom Systemgedanken abgewichen ist. Der Bürger sollte sich in den Dienst des Staates stellen. Grauzonen gab es nicht. Und wer die Grenzen nicht einhielt, bekam die volle Härte, Unbarmherzigkeit und Unrechtsmäßigkeit des Systems zu spüren. Vielleicht ist auch deshalb so wenig über diese Zeit bekannt, weil analog zur Nazizeit nur wenige Menschen ihren Nachkommen hiervon erzählten, wie Hesse in dem das Gespräch zwischen Onkel und Neffe reflektierenden Epilog aufzeigt, worin der Ich-Erzähler ebenfalls hinterfragt, warum sein Onkel nicht früher – nicht einmal mit dem eigenen Bruder – über die Geschehnisse gesprochen hatte, sondern als Erstes mit ihm. Obgleich es teils ein spätes und zaghaftes Erzählen der Zeitzeugen ist, so hilft es den jüngeren Generationen, eine Vorstellung von den Verhältnissen und dem Leben in einem geteilten Deutschland sowie einem unterdrückerischen Staat zu erhalten.