Rezension

Portrait einer amerikanischen Kleinstadt

Heartland - Joey Goebel

Heartland
von Joey Goebel

Bewertet mit 4 Sternen

Bashford – ein fiktiver Ort im mittleren Westen der USA. Ein Ort, den man aber trotzdem mühelos überall in den ländlichen Gegenden der USA finden könnte: Ca. 50.000 Einwohner, ein eher unterklassiges College, ein Wal-Mart-Supercenter und drei McDonalds. Kultur- und Freizeitmöglichkeiten sucht man vergebens. Es gibt ein Villenviertel, in dem die wenigen Reichen der Stadt wohnen, die klassischen Einfamilienhaus-Siedlungen des Mittelstands und den Trailerpark, in dem die unterste Schicht der Gesellschaft haust. Und es gibt den einen großen Arbeitgeber, bei dem die halbe Region beschäftigt ist. In Joey Goebels fiktivem Bashford ist das die Westway Zigarettenfabrik. Die Unternehmerfamilie Mapother ist somit die reichste und einflussreichste Familie im gesamten Umkreis der Stadt. Eines fehlt dem Mapother-Clan aber noch: Ein Sitz im Kongress. Den soll Stammhalter John holen. Doch John ist auch der typische reiche Unternehmersohn, dem vor allem der Zugang zu den unteren Gesellschaftsschichten fehlt – die ja immerhin der Großteil der Wähler sind. Diese zu fangen, dabei soll ihm sein kleiner Bruder Blue Gene helfen. Blue Gene, die Hauptfigur des Romans, hat vor vier Jahren den Kontakt zu seiner Familie vollständig abgebrochen, lebt freiwillig im Trailerpark und verdient sein Geld mit Flohmarktverkäufen. Eher unfreiwillig lässt sich Blue Gene breit schlagen, seinem Bruder beim Wahlkampf zu helfen – dabei macht er eine große Wandlung durch und deckt ein tief vergrabenes Familiengeheimnis auf.

„Heartland“ nur auf ein Genre zu reduzieren wird schwer – Goebel hat zum einen ein gelungenes, scharf beobachtetes Portrait einer typischen Kleinstadt im mittleren Westen vorgelegt. Genauso ist „Heartland“ aber auch eine spannend erzählte Familiensaga, Gesellschaftskritik und politisches Lehrstück mit utopischen Zügen. Richtig gut fängt der Roman die Probleme der amerikanischen „Working Poor“ ein – wie es sich lebt, ohne Krankenversicherung; warum man sich trotz Arbeit keine Wohnung und kein anständiges Essen leisten kann. Auch über die Tricks im Wahlkampf und das Wahlverhalten der Amerikaner erfährt der Leser einiges. Die Charaktere sind extrem gut ausgearbeitet und bleiben im Gedächtnis hängen, weil sie auch sehr außergewöhnlich sind. Am Ende gelingt es Goebel aus der Perspektive der Provinz die Probleme und Politik eines ganzen Landes zu charakterisieren.

Zugegeben, der über 700 Seiten starke Roman hat ein paar unnötige Längen – gerade einige Dialoge drehen sich manchmal etwas im Kreis und so wirkt die Geschichte am Ende etwas überladen. Aus diesem Grund hat mir „Heartland“ nicht ganz so gut gefallen, wie Goebels Romane „Vincent“ und „Ich gegen Osborne“. Trotzdem hab ich den Roman gern gelesen und kann ihn nur weiterempfehlen – gerade auch jetzt kurz vor der Präsidentschaftswahl in den USA. Ein kluges, ernstes Buch.