Rezension

Revolte in Musik

Ich bin China - Xiaolu Guo

Ich bin China
von Xiaolu Guo

Bewertet mit 3.5 Sternen

In einem Land, in dem die Freiheit ein rares Gut ist, sind die beiden Liebenden Mu und Jian Teil einer subversiven jungen Künstlerszene. Mit Musik und Literatur wollen sie gegen die politische Unterdrückung kämpfen und für das Recht ihrer Generation, frei zu leben. Bis sie die zerstörerische Kraft der chinesischen Staatsmacht zu spüren bekommen und plötzlich nicht nur ihr gemeinsames Leben auf dem Spiel steht.In einem beeindruckenden Roman voller Kraft, Wut und Hingabe schlägt die gefeierte chinesische Autorin Xiaolu Guo den Bogen vom China der Neuzeit bis nach Europa und erzählt eine Geschichte, die uns alle berührt. (Verlagsseite) 

Eine Mischung aus Tagebuchberichten von Jian und Mu, Briefen der beiden, erzählter Geschichte über beide zusammen und jeden einzeln und erzählter Geschichte über Iona, Übersetzerin der Tagebücher und Briefe

Vorweg ein paar Worte zur ungewöhnlichen Covergestaltung: Ein Schutzumschlag aus durchsichtig-rotem festem Plastik, der das Fotos eines schlafenden chinesischen Mädchens auf dem Buchumschlag durchscheinen lässt. Auf dem oberen Schnitt der Titel des Buches in dicken roten Großbuchstaben. Ein Buch also, das schon wegen seines Designs auffällt. 

Xiaolu Guo entwirft ihren Roman als Collage: Vor der Sinologin und Übersetzerin Iona, die in Sachen Liebe nie das erträumte Glück fand, umso erfahrener in Sachen beliebiger Sex ist, liegt ein Packen unsortierter Papiere, Tagebücher und Briefe mit handschriftlichen chinesischen Zeichen bedeckt, die sie von einem Verlag zur Übersetzung bekommen hat; eventuell soll daraus ein Buch entstehen.
Ionas Geschichte, ihre Übersetzungen, ihr von Sex bestimmtes Leben und ihre Sehnsucht nach Nähe und Liebe sind das Gerüst, in dem sich die Liebesgeschichte zwischen Mu und Jian, deren Erinnerungen an die Zeit der Revolten und ihre Zukunft in und außerhalb von China aufbaut. 

Jian lebt für seine Musik, die er in China nur in Untergrund-Cafés oder –Kneipen spielen kann. Er träumt von einem freien Land, in dem seine Poesie und seine Lieder nicht nur geduldet, sondern auch gehört und auf der Straße laut gesungen werden können. Seine politischen Überzeugungen trägt er in einem Manifest zusammen, das er während eines Konzertes ins Publikum wirft. Erst im Laufe des Buches verdeutlicht sich, warum er nicht eingesperrt und verurteilt, sondern „nur“ ausgewiesen wird.
Im Jahr bevor seine Tagebücher übersetzt werden, sitzt er in England im Übergangsquartier für Asylanten und wartet auf die Bearbeitung seines Falles vor den englischen Behörden. 

Mu wünscht sich auch ein freieres Leben, doch sie wägt Risiken eher ab als Jian. Immer noch ihrer bäuerlichen Herkunft verhaftet, wäre ihr die Gründung einer Familie und das Zusammenleben mit Jian schon fast genug. Doch das würde ihrem Freund nicht reichen. 

Von vorneherein ist klar: Es kommt zur Trennung. Doch das Wie und Warum enthüllen sich erst nach und nach, je weiter Iona mit ihren Übersetzungen kommt.
Auch sie macht eine Entwicklung durch und erkennt, dass der schnelle Sex ihre Sehnsucht nicht stillen kann. 

Wenn Xiaolu Guo den Leser für die chinesischen Unfreiheiten und Zwänge, besonders Meinungsäußerung, Redefreiheit und künstlerische Unabhängigkeit sensibilisieren will: Es ist gelungen. Wenn sie das europäische, besonders das britische Asylverfahren kritisch beleuchtet: Gelungen. Wenn sie die Situation junger chinesischer Frauen im westlichen Ausland darstellt: Auch geglückt.
Die Frage ist berechtigt, ob sie ihr Buch nicht überfrachtet hat, denn neben diesen großen gesellschaftlichen Problemen haben die Protagonisten weitere persönliche Katastrophen zu bewältigen.
Ionas Suche nach Jian ist, wenn man die zeitlichen Abläufe betrachtet, zu melodramatisch konstruiert. 

Wer sich für chinesische Gegenwart, die Folgen der Revolte auf dem Tian’anmen-Platz und die aktuellen Lebensbedingungen junger Chinesen interessiert, kommt mit diesem Buch auf seine Kosten. Auch wenn es sich durch den ständigen Wechsel zwischen Personen, Zeit- und Handlungsebenen nicht leicht liest, setzt sich eine interessante Geschichte im Kopf des Lesers zusammen.