Rezension

Später ist zu spät.

Kartonwand -

Kartonwand
von Fatih Cevikkollu

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Wir haben Nachholbedarf an Literatur über türkische Emigration.

Als seine Mutter stirbt begreift Fatih Çevikkollu zwei Dinge, erstens, dass er seiner Familie entfremdet ist und zweitens, dass seine Mutter trotz aller Probleme und Missverständnisse und trotz der Distanz zwischen ihnen beiden, eben die Mutter gewesen ist. Das Sterben der Eltern ist für jeden Menschen ein besonderer Einschnitt ins Leben. Die Mutter ist zentral.
Längst ist Fatih Çevikkollu erwachsen und hat selber Kinder. Trotzdem ist der Zeitpunkt gekommen, sich noch einmal mit seiner Identität auseinanderzusetzen. Was ist er, wo kommt er her, wohin gehört er? 

Fatih Çevikkollu hat seinen Platz in der Gesellschaft längst gefunden. Er macht inzwischen Theater und Schauspiel. Man kennt ihn. Der Weg dorthin war nicht eindeutig, er hat längere Zeit gebraucht, um herauszufinden, was er im Leben machen möchte. Hängt diese Vagheit und Unentschlossenheit, was er im Leben tun will, mit seiner Herkunft zusammen, mit der Migration der Eltern, hängt die psychische Erkrankung seiner Mutter vielleicht auch mit der Emigration aus der Türkei und im fortgeschrittenen Alter krank zurück, damit zusammen? Legitime Fragen, die freilich unbeantwortbar sind.

Der Kommentar:
Die Sache mit der Kartonwand, könnte lustig sein, wenn sie nicht andererseits so tragisch wäre. Was ich bereits im “Unser Deutschlandmärchen” belustigt gelesen habe, war wohl Usus. Die türkischen Mitbürger wollten zurück und sie horteten alles, was schön war und was sie mit ihrem schmalen Gehalt einkaufen konnten, in einer Kartonwand, für später.
Das Leben für Später war eine Illusion. Das erkennt Fatih Çevikkollu. Er macht seinen Eltern keine Vorwürfe, dennoch haben er und seine Geschwister Narben davongetragen, weil sie nicht wussten, wo sie hingehörten und hin- und hergeschickt wurden. Stichwort Kofferkinder. Auch die Eltern haben diese Narben, Entfremdung von den Kindern, ein Leben lang gespürt. Und jeden Luxus haben sie sich versagt. Stattdessen Ansprüche aus der Heimat. Unterstützung  war nirgendwo in Sicht.

Es ist wichtig, dass Gastarbeiterschicksale allmählich literarisch verarbeitet werden und stärker ins Bewusstsein rücken! Und es ist höchste Zeit, die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland zuzulassen. Es könnte manche Probleme lösen, praktische und emotionale.
Eines sollte man jedoch nicht vergessen, in den 50er und 60er Jahren ging es auch nicht allen Deutschen gut. (Selbst heute nicht). Und wenn man die Schuldfrage schon stellen muss, obwohl das müßig ist, dann muss man sie doppelt stellen.
Das Ankunftsland hat diskriminiert, ohne Frage, und diese Diskriminierung muss ohne Wenn und Aber beim Namen genannt werden, aber wenn es um fehlende Hilfestellungen geht, glänzt auch das Herkunftsland nicht.

Fazit: Dessen ungeachtet, mag ich dieses Buch. Ich mag seine Ehrlichkeit und Unverblümtheit. Es zeigt Zerrissenheit bis in die dritte Generation. Das ist Migrantenschicksalen eigen. Tiefe Wunden brauchen viel Zeit zum Heilen. Und es braucht eine Plattform, die Erzählungen von diesen Wunden adäquat unters Volk bringen. Sie gehören unbedingt zu unserer gemeinsamen Geschichte.

Kategorie: Migrationsliteratur + Gesellschaftskritik
Verlag: Kiwi, 2023