Rezension

Stern 111 von Lutz Seiler

Stern 111 - Lutz Seiler

Stern 111
von Lutz Seiler

Nur wenige Tage nach dem Fall der Mauer erhält Carl eine Nachricht seiner Eltern, dass sie seine Hilfe benötigen. Als er bei ihnen in Gera eintrifft eröffnen sie ihm, dass sie in den Westen wollen, Carl hingegen soll die Stellung in der elterlichen Wohnung halten. Während seine Eltern in Notaufnahmelagern und Durchgangswohnheimen landen, dabei aber scheinbar immer einem ganz speziellen Ziel folgen, nimmt Carl bald Reißaus nach Berlin. Dort wohnt er erst auf der Straße und landet danach beim Rudel - einer Gruppe von Frauen und Männern in der Hausbesetzerszene. Ihnen schließt er sich an, arbeitet in der Assel, einem Kellerlokal in einem der besetzen (oder wie es im Buch so schön heißt bewohnten) Häuser, dass er zusammen mit dem Rudel aufbaut. Gleichzeitig will er aber eigentlich Gedichte schreiben und veröffentlichen.

Ich finde Bücher oder auch Dokumentationen über die DDR und den Mauerfall immer ziemlich spannend, da sie von Geschichte handeln, die ich selbst nicht miterlebt habe, die aber dennoch noch so nah ist. Ich wundere mich tatsächlich immer wieder darüber, dass Deutschland noch bis ein paar Jahre vor meiner Geburt getrennt war. Für mich unvorstellbar.

In diesem Roman geht es nun um zwei verschiedene Geschichten, die sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnten. Da hätten wir zum einen Carl, der den gesamten Roman lang eher ziellos durch Berlin irrt. Vom Rudel wird er zwar von der Straße aufgelesen und aufgenommen, eine richtige Zugehörigkeit zu Ihnen entsteht aber nicht so richtig. Immer spricht Carl vom Rudel, als wäre es eine Gruppe, zu der er selbst nicht dazu gehört. Carls Umhertreiben spiegelt sich selbst in seiner Wohnung wieder, vor dem Ofen liegt sein Matratzen Floß, drei aneinander gebundene Matratzen, auf dem er in den Schlaf treibt, wie ansonsten durch sein Leben.

Carl tritt auf als Handwerker, der vom Rudel, wegen seiner Fähigkeiten hoch geschätzt wird. Viel lieber würde Carl sich aber als Dichter sehen, doch so sehr er es versucht, über 20 gute Gedichte kommt er nicht hinaus. Hier hat er zwar das Ziel vor Augen irgendwann einmal seine Gedichte zu veröffentlichen, doch lässt er viele Gelegenheiten ungenutzt.

Immer wieder erhält Carl Briefe von seiner Mutter, die nicht gerade dazu beitragen, seine Verwirrtheit zu vertreiben. Es fühlt sich für ihn falsch an, diese Rollenverteilung zwischen ihm und seinen Eltern. Es sollte doch so sein, dass die Kinder von Zuhause fort gehen und nicht die Eltern in ein Abenteuer ziehen und ihr Kind zurück lassen. Dazu kommt, dass Carls Eltern scheinbar etwas vor ihm verbergen. Ihr Weg durch den Westen führt sie zu verschiedenen Stationen. Erschreckend waren für mich vor allem die Vorurteile, mit denen sie konfrontiert wurden oder wie sie aufgrund dessen, dass sie aus der DDR kommen ausgenutzt wurden. Dieses Gefühl, dass mir das Buch vermittelt hat, dass manche Menschen auf einen hinab gesehen haben, wenn man aus der DDR kam, fand ich äußerst bedrückend.

Bei historischen Geschichten finde ich es immer spannend, wenn man zum Schluss herausfindet, welche Aspekte der Geschichte tatsächlich passiert sind und welche nicht. Seilers Danksagung ließ darauf schließen, dass er Teile seiner eigenen Lebensgeschichte hat einfließen lassen. Daraufhin habe ich zum Beispiel dieses Interview im Tagesspiegel mit Seiler gelesen und war fasziniert, welche Orte es tatsächlich gegeben hat und welche Begebenheiten an die Wahrheit angelehnt sind.