Rezension

Stürmische Zeiten auf Norderney

Gezeitenkinder -

Gezeitenkinder
von Luise Diekhoff

Bewertet mit 4 Sternen

Norderney – für viele bedeutet das Urlaub, Erholung und eine unbeschwerte Zeit zwischen Dünen, Sand und Meer. Auch Hanna verspricht sich eine angenehme und lehrreiche Zeit im Kindererholungsheim „Strandhafer“, wo sie zusammen mit ihrer Cousine Evi ihre erste Stelle als Pflegerin antritt. Doch schnell stellt sich heraus, dass die vermeintliche Inselidylle auch ihre dunklen Seiten hat, deren Ursprünge bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs reichen. Es ziehen stürmische Zeiten für Hanna heran und sie setzt sich zum Wohle der Kinder dafür ein, dass sich die Zustände und Erziehungsmaßnahmen im Heim „Strandhafer“ bessern. Allerdings stößt sie auf Widerstand und muss auf Norderney härter als gedacht um Gerechtigkeit und Wahrheit kämpfen.
In ihrem Roman „Gezeitenkinder“ verknüpft Luise Diekhoff Fiktion mit historischen Begebenheiten. Inspiriert wurde sie zu dem Stoff, da ihre Mutter als Pflegerin auf Norderney gearbeitet hat. Genauso ein Kindererholungsheim wie „Strandhafer“ gab es auf der Insel zwar nicht, aber die geschilderten Begebenheiten haben einen wahren Kern und sind zum Teil ähnlich in anderen Kinderheimen geschehen, wie die Autorin im Nachwort erklärt. Aufgrund dieses historischen Bezugs fand ich das Thema des Buches sehr interessant und ich konnte während der Lektüre noch etwas hinzulernen. Nicht zuletzt hat mich „Gezeitenkinder“ angesprochen, da ich selbst von der ostfriesischen Küste komme und daher Bezug zum Handlungsort habe.
Meiner Meinung nach hat Luise Diekhoff Norderney authentisch dargestellt und durch viele Details, die sie am Rande einfließen lässt, gezeigt, dass sie Ortskenntnis besitzt und viel Recherchearbeit auf der Insel betrieben hat. Etwas mehr „Lokalkolorit“ hätte ich mir aber im Hinblick auf die Figuren oder typische Gepflogenheiten der Norddeutschen gewünscht, denn der spezifische Charakter von Land und Leuten wird nicht genug deutlich. Zwar verzichtet die Autorin so immerhin auf platte Stereotype und die Geschichte bekommt eine stärkere Allgemeingültigkeit, aber Handlungsort und Personen wirken dadurch eben auch schnell austauschbar. Hier hätte ich mir mehr norddeutsches Flair erhofft.
Der Schreibstil liest sich einerseits flüssig und leicht weg, ist andererseits aber auch wenig ambitioniert oder literarisch anspruchsvoll. „Gezeitenkinder“ eignet sich deswegen gut als unangestrengte Urlaubslektüre, zum Beispiel wenn man vielleicht gerade selber an der Nordsee ist. Zu Beginn dümpelt die Handlung etwas vor sich hin und es hätte für mich spannender sein können, aber nach etwa 100-150 Seiten nimmt der Roman dann vermehrt Fahrt auf und es kommt „Seegang“ in die Handlung. Je tiefer Hanna in die dunkle Vergangenheit des Kindererholungsheims und Norderneys eindringt, desto packender wird es!
Jedoch ist Hanna nicht die alleinige Protagonistin, die auf Norderney in den Strudel von Macht, Moral und Verantwortung gerät. Da ist zum einen noch der Hausmeister des Kinderheims, Wilko, dessen Schicksal auch eng mit den geheimnisvollen Geschehnissen aus dem Zweiten Weltkrieg verknüpft ist und der im Verborgenen gegen das Vergessen von Kriegsverbrechen kämpft. Zum anderen trifft Hanna den jungen Holländer Jan, der Spuren seiner im Zweiten Weltkrieg auf Norderney verschollene Tante Ardie sucht und ihr Schicksal klären will. All diese Handlungsfäden laufen am Ende überraschend zusammen und schärfen das Bewusstsein dafür, dass Menschen nicht die Augen vor Ungerechtigkeiten verschließen dürfen, sondern Verantwortung übernehmen müssen, um sich für das Wohl aller einzusetzen. Hanna, die sich anfangs noch als wenig mutig bezeichnet, gelingt es, diesbezüglich über sich hinaus zu wachsen und das moralische Handeln über den eigenen Vorteil zu stellen. Somit hat Luise Diekhoff trotz des eher leichten Erzähltons bei Weitem keinen seichten Roman geschrieben, sondern Stoff zum Nachdenken geliefert.
Meiner Meinung nach dürfte „Gezeitenkinder“ LeserInnen gefallen, die die „Wunderfrauen“-Trilogie von Stephanie Schuster oder „Die Schule am Meer“ von Sandra Lüpkes mochten. Und vielleicht darf man sogar auf eine Fortsetzung von Hannas Geschichte hoffen, denn die Autorin erwähnt auf den letzten Seiten: „Auf jedes Ende folgt etwas Neues“ und Hanna bekommt ein leeres Notizbuch geschenkt… Man darf gespannt sein, welche weiteren Wellen Hannas Leben schlagen wird.