Rezension

Szeneroman

Herr Lehmann - Sven Regener

Herr Lehmann
von Sven Regener

Bewertet mit 5 Sternen

Ich muss zugeben, dass ich ziemlich skeptisch war, ob ich dieses Buch überhaupt lesen wollte. Einerseits reizte es mich, aufgrund der Thematik schon sehr, aber dann war da der Autor, Sven Regener. Ein komischer Mensch, wenn man das so behaupten kann. Aber doch ein guter - und das mag untertrieben sein - Autor!
Der Protagonist, Frank Lehmann, stolpert nur so durch sein Leben, von einer ungewollten Situation in die nächste. Von einem Hund, der ihm im ersten Kapitel den Weg nach Hause versperrt und den er erst mit einer gestohlenen Flasche Whiskey - und vor allem dessen Inhalt - zu besänftigen weiß, über eine Diskussion mit der neuen Köchin Katrin über Schweinebraten und wann man diesen denn essen darf und wann nicht in der "Markthalle" am nächsten Morgen.
Dieser Roman ist sicher nicht etwas für Jedermann, aber mich konnte er gut unhalten. Alleine die ungewollte Komik ist es schon wert, einfach weiterzulesen, wie ich finde. Auch wenn das alles manchmal schnell in Tragik abdriftet, als zum Beispiel Herr Lehmanns bester Freund Karl zunehmend verrückt wird und sich niemand so recht um ihn sorgen möchte, außer eben Herr Lehmann selbst. Ich glaube, dass das ganze gut die Atmosphäre im Westberlin 1989, kurz vor dem Mauerfall beschreibt. 
Trotzdem legt Regener Wert darauf, dass das ganze nicht als "Wenderoman" oder "Berlinroman" abgestempelt wird, denn das ist es auch wirklich nicht. Dafür steht die Figur Frank Lehmann viel zu sehr im Vordergrund, denn das ganze ist auch aus dessen Sicht geschrieben und diesen scheint es nicht groß zu kümmern, was denn in Berlin eigentlich passiert. Er lebt in einem Mikrokosmos, die aus seiner Wohnung und der Kneipe in der er arbeitet, dem Einfall, zu bestehen scheint.
Abgesehen von Frank Lehmann erfährt man nicht wirklich viel über die verschiedenen Charaktere, aber auch das finde ich eigentlich gut gelöst, da es ebenfalls in das damalige Lebensgefühl hineinpasst. Jeder kümmert sich im Grunde nur um sich. Frank Lehmann ist da vielleicht eine Ausnahme, doch so wirklich merken tut das niemand. Sowieso scheinen ihn seine Freunde im Grunde zu ignorieren, treiben ihn nur dauernd zu irgendwelchen Dingen an, die er eigentlich gar nicht machen möchte. Zum Beispiel geht er, auf den Wunsch von Katrin hin, ins Prinzenbad, obwohl er davor schon seit 9 Jahren nicht mehr schwimmen war.
Das Buch endet in der Nacht, in der die Mauer fällt, dem 9. November 1989, was gleichzeitig auch Lehmanns dreißigster Geburtstag ist. Für ihn scheint es aber nur eine Nacht wie alle anderen Nächte davor auch zu sein, die er in einer Kneipe verbringt. 
Der Schreibstil ist stellenweise wirklich schwierig. Das erkennt man auch schon am ersten Satz. Die verschachtelten Sätze bleiben und auch die Thematik an sich ist manchmal nicht einfach nachzuvollziehen. Da philosophiert Lehmann gemeinsam mit Katrin über den Unterschied zwischen "lieben" und "verliebt sein", zum Beispiel. Der ganze Roman trägt sich zum Großteil alleine in den Gedanken von Frank Lehmann aus und so ist "dachte er" wohl eine der häufigsten Phrasen. Trotz all dieser Schwierigkeiten kam ich allerdings relativ flüssig durch das Buch.
Eine meiner Lieblingspassagen aus dem Buch möchte ich dabei nicht vorenthalten. Mir gefallen die teilweise wirren Gedankengänge gut, da sie auch den Leser zum Nachdenken anregen. Ist nebenbei auch eine dieser, im Verlauf des Buches ganz typisch werdenden Diskussionen zwischen der Köchin Katrin, mit der er auch kurzfristig eine Beziehung führt, und Herrn Lehmann.
 

"Moment mal", sagte Herr Lehmann. "Was soll das heißen, Lebensinhalt? Lebensinhalt ist doch ein total schwachsinniger Begriff. Was willst du damit sagen, Lebensinhalt? Was ist der Inhalt eines Lebens? Ist das Leben ein Glas oder eine Flasche oder ein Eimer, irgendein Behälter, in den man was hineinfüllt, etwas hineinfüllen muss sogar, denn irgendwie scheint sich ja die ganze Welt einig zu sein, dass man so etwas wie einen Lebensinhalt unbedingt braucht. Ist das Leben so? Nur ein Behältnis für was anderes? Ein Fass vielleicht? Oder eine Kotztüte?" (S. 58)

Die Handlung, die diesem Roman vorhergegangen wird, wird von Regener in zwei weiteren Büchern behandelt. Einmal ist das "Neue Vahr Süd", die seine Zeit in Bremen und bei der Bundeswehr behandelt und danach "Der kleine Bruder", der quasi die Geschehnisse unmittelbar vor "Herr Lehmann" beschreibt.
Das Buch bekommt von mir volle Punktzahl, da ich auch einfach viel weniger erwartet hatte, als es dann im Endeffekt geboten hat. Klare Leseempfehlung meinerseits!