Rezension

Über das Aussterben - Ein Roman der Spitzenklasse

Der Hals der Giraffe - Judith Schalansky

Der Hals der Giraffe
von Judith Schalansky

Bewertet mit 5 Sternen

"Der Hals der Giraffe" von Judith Schalansky steht auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises. Meiner Meinung nach völlig zurecht.

Zum Inhalt: Es geht um die Biologie-Lehrerin Inge Lohmark, 55 Jahre alt und "die letzte ihrer Art". Eine Lehrerin der alten Schule, Frontalunterricht, Strenge, kein persönlicher Kontakt zu den Schülern - das ist für sie das einzig Wahre. Gruppenunterricht, "U"-artige Platzanordnung oder ein freundschaftliches Verhältnis zu Schülern - personifiziert durch ihre Kollegin Schwanneke - verabscheut sie.
Aber ihre Unterrichtszeit am Charles-Darwin-Gymnasium in einer schrumpfenden Kleinstadt in Vorpommern nähert sich dem Ende. Die neunte Klasse, ihre Klasse, besteht nur noch aus 12 Schülern und wird die letzte sein. In vier Jahren ist Schluss, aber sie will bis zum Ende bleiben. Ihr Mann Wolfgang züchtet Strauße, seit er seinen Job als Veterinärtechniker in der Rinderzucht verloren hat. Das Ehepaar sieht sich nur selten. Die einzige Tochter, Claudia, lebt seit Jahren in den USA, der Kontakt ist spärlich und - obwohl schon 35 - hat sie kein Interesse daran Kinder zu kriegen. Zu guter Letzt entwickelt Inge Lohmark auch noch ein fragwürdiges Interesse an einer ihrer Schülerinnen und ignoriert die Mopping-Attacken gegen eine andere. Irgendetwas läuft nicht mehr richtig in Frau Lohmarks biologisch korrekter Welt...

Das Buch ist in drei Kapitel eingeteilt; drei Kapitel für drei Tage aus Frau Lohmarks Leben, überschrieben mit "Naturhaushalte", "Vererbungsvorgänge" und "Entwicklungslehre". Jede Doppelseite bekommt außerdem noch eine zusätzliche Überschrift aus dem Reich der Biologie, die dem Inhalt der jeweiligen Seiten angepasst ist, und zusammen mit den Illustrationen von Tieren, Stammbäumen und Entwicklungsstadien den Untertitel "Bildungsroman" noch etwas anschaulicher macht.
Außerdem ist die Gestaltung des Einbands hervorzuheben. Bezogen mit grobem grau-braunen Leinen ist es ein Hingucker in jedem Bücherregal.

Geschrieben ist "Der Hals der Giraffe" in einer sehr trockenen, oft schon zynischen, analysierenden Sprache, über die man durchaus schmunzeln kann. Frau Lohmark beobachtet alles, ihre Schüler, ihre Stadt, die Beziehungen zu ihrer Tochter und ihrem Mann. Ihre nüchternen Schlussfolgerungen sind teilweise schon grotesk, insbesondere die Charakterisierungen ihrer Schüler, die sich rein nach ihrem Entwicklungsstand aus evolutionärer Sicht richten. Gefühle sind überflüssig, Liebe ist ein "Alibi für kranke Symbiosen".

Frau Lohmark weiß also eigentlich alles über die Notwendigkeit der Anpassung, nur sie selbst ist dazu nicht mehr in der Lage. Ihren Unterrichtsstil hält sie trotz Kritik bei, neue berufliche Perspektiven sind ausgeschlossen. So verliert sie selbst mit der Zeit den Anschluss, sowohl beruflich als auch privat, denn ihr Mann hat die Anpassung geschafft. Zudem schenkt ihr ihr einziges Kind keine Nachkommen, "das tote Ende einer Entwicklung" ist erreicht, Frau Lohmarks Gene werden nicht mehr weitergegeben. So wird Frau Lohmark, der es ausgerechnet die ausgestorbenen Tiere angetan haben, wirklich zur "letzten ihrer Art".

Die Autorin hat hier ein teilweise (trocken) witziges, teilweise bedrückendes Buch über das die Anpassung und das Aussterben geschaffen, in dem sie das Älter werden, den demografischen Wandel und die Abwanderung aus der ehemaligen DDR geschickt verarbeitet. Jede der 222 Seiten ist gelungen und ich konnte es nicht aus der Hand legen.