Rezension

Überleben - und dann?

Und dann verschwand die Zeit -

Und dann verschwand die Zeit
von Jessie Greengrass

Bewertet mit 4.5 Sternen

Klimakatastrophe nur ein bisschen weiter gedacht - ein eindringlicher, (noch) dystopischer Roman, erzählt aus der Sicht von Überlebenden...

Auf einer Anhöhe abseits einer kleinen Stadt am Meer liegt das High House. Dort leben Grandy und seine Enkeltochter Sally sowie Caro und ihr Halbbruder Pauly. Das Haus verfügt über ein Gezeitenbecken und eine Mühle, einen Gemüsegarten und eine Scheune voller Vorräte – die Vier sind vorerst sicher vor dem steigenden Wasser, das die Stadt zu zerstören droht. Aber wie lange noch? Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly kommen im High House an, nachdem ihr Vater und ihre Stiefmutter, zwei Umweltforscher*innen, sie aufgefordert haben, London zu verlassen, um im höher gelegenen Haus Zuflucht zu suchen. In ihrem neuen Zuhause, einem umgebauten Sommerhaus, das von Grandy und seiner Enkelin Sally betreut wird, lernen die Vier, miteinander zu leben. Doch das Leben ist anstrengend, besonders im Winter, die Vorräte sind begrenzt. Wie lange bietet das Haus noch die erhoffte Sicherheit? (Klappentext)

Wow, ich stehe noch völlig unter dem Bann des Gelesenen, das mich bedrückt und emotional zurücklässt. Obschon es sich um einen (noch) dystopischen Roman handelt, schafft die Autorin hier ein Szenario, das sich leider nicht weit von unserer gegenwärtigen Realität entfernt anfühlt. Insofern ist dies ein unbequemer Roman, der die Folgen unseres Nichthandelns unnachgiebig vor Augen führt - die Rede ist von der drohenden Klimakatastrophe aufgrund der globalen Erwärmung und ihren Folgen.

Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly leben in London, die Eltern in ihrer Funktion als Umweltforscher:in sind ständig weltweit unterwegs, um zu mahnen, aufzuzeigen und zu retten was noch zu retten ist. Doch v.a. Francesca, Caros Stiefmutter, hält angesichts der großen Dürren und Wasserknappheit auf der einen Seite sowie zunehmend heftigerer Stürme und Überschwemmungen auf der anderen im Grunde keine Chance mehr, die Folgen des menschlichen Handelns noch umzukehren. Dennoch sorgt sie gemeinsam mit ihrem Mann vor und baut ihr Sommerhaus am Meer um. Für Pauly und seine Schwester.

Als der Vater die beiden schließlich anruft und sie wegschickt aus London, ahnen sie nichts von den Plänen ihrer Eltern. Doch Caro erfasst die Dringlichkeit der Bitte ihres Vaters und macht sich mit ihrem kleinen Halbbruder auf den Weg. Als sie in High House eintreffen, werden sie zu ihrer Überraschung schon erwartet. Sally und ihr Großvater Grandy sind dort bereits eingezogen, aufgrund der ausdrücklichen Bitte von Francesca. Denn diese wusste, dass Caro und Pauly Hilfe brauchen würden auf ihrem Weg hin zur Selbstversorgung, unumgänglich, sobald die Folgen der Klimakatastrophe auch Großbritannien erreichen würden.

 

"Eine Arche zu bauen genügt nicht, man muss auch wissen, wie man sie steuert."

Erzählt wird hier wechselnd aus drei verschiedenen Ich-Perspektiven: Caro, Sally und Pauly. Dabei hat Pauly, der zu Beginn der Erzählung noch sehr jung ist, einen vergleichsweise kleinen Anteil, rundet durch seine Erinnerungsschnipsel das Bild jedoch ab. Und es ist interessant zu verfolgen, wie die unterschiedlichen Charaktere ihre Lage beurteilen und empfinden. Caro und Sally bestreiten den Hauptteil der Erzählung, berichten auch von ihrer Kindheit und Jugend. Sally, aufgewachsen im Dorf bei ihrem Großvater, der immer alles selbst reparieren und sich weitesgehend selbst versorgen konnte mit seinem Wissen über Tierhaltung, Anbau von Gemüse, Obst und Getreide sowie Fischfang, übernimmt in High House meist die praktischen Dinge und geht die Aufgaben pragmatisch an. Caro, die immer schon eine Ersatzmutter für Pauly war, weil Francesca im Grunde nie da war, fühlt sich unwohl in der neuen Situation, erkennt aber, dass ihr keine andere Wahl bleibt. Allein schon um Pauly willen. Und Pauly nimmt zunächst mit seiner kindlichen Naivität den neuen Wohnort als gegeben hin, wächst allmählich aber auch in Aufgaben hinein und findet seinen Platz. Grandy schließlich hat keinen eigenen Erzählstrang, ist aber der wissende Ruhepol in ihrer Mitte. Doch Grandy ist alt...

Und wie ergeht es den Vieren, immer allein miteinander ohne Kontakt zur Außenwelt? Welche Perspektiven sehen sie, welche Zukunftsgedanken hegen sie, welche Ängste brechen sich Bahn? Einsamkeit und harte Lebensbedingungen fordern zusehends ihren Tribut, ein Ausweg ist nicht zu sehen - auch nicht in Zukunft. Alltägliche Sorgen wie auch existentielle Fragen erhalten hier einen Raum, meist unaufgeregt und distanziert bis lakonisch geschildert, aber deshalb nicht weniger eindringlich. Auch wenn mir keine der Figuren - außer Grandy vielleicht - wirklich nahe kam, hat mich die Melancholie und Beklemmung der Situation immer mehr erfasst.

Ich glaube, das Schlimmste für mich war die Tatsache, dass hier zwar die Folgen unseres menschlichen Handelns drakonisch vor Augen geführt werden, die Figuren selbst aber auch nicht hätten sagen können, was sie anders hätten machen können, abgesehen von politisch und wirtschaftlich einschneidenden Maßnahmen. Caro, Pauly und Sally haben dank Francescas Vorsorge überlebt. Doch die Frage drängt sich auf: ja, und dann?

Ein wirklich eindringliches Leseerlebnis, das mich sicher noch weiter beschäftigen wird...

 

© Parden