Rezension

Umfassende Forderungen ohne Problembewusstsein und Lösungsangebote

Das Fluchtparadox -

Das Fluchtparadox
von Judith Kohlenberger

Bewertet mit 2 Sternen

Wenn man wirklich verstanden werden will, muss man anders schreiben.

Ich habe wirklich nicht alles in diesem Essay verstanden, was unter anderem an der Schwerlesbarkeit des Textes mit den unzähligen, gefühlt Tausenden von *chen liegt, wobei man den Plural eines Wortes kaum mehr erkennen kann; das geht bis zur Satzentstellung bei diesem Text! Sprachlich kommen zahlreiche Verballhornungen dazu, von „Verunmöglichung bis Versicherheitlichung“, dazu viele ungebräuchliche Anglizismen, Partizipien ohne Ende, Worte in Klammern und hunderte von Zitaten anderer Fachleute. Warum nicht einfach mal einen Essay bestehend aus eigenen Gedanken schreiben? Ein populärwissenschaftliches Fachbuch ist keine Doktorarbeit, bei der es unerlässlich ist, stets und ständig zu zitieren. Sprachlich ist „Das Flüchtlingsparadox“ also äußerst unschön. Aber wenn es einem nicht darauf ankommt, verstanden zu werden, gerade bei denen, die man doch überzeugen möchte, sich aber von der eigenen Blase feiern zu lassen, ausreicht? Dann schreibt man so.

Der Inhalt und der Kommentar:
Das Fluchtparadox bestehe darin, dass man das jeweilige staatlich garantierte Recht Asyl zu beantragen, nur dadurch erlangen könne, dass man Recht bricht, sprich illegale Grenzüberschreitung(en) vornimmt. Für diesen lapidaren Satz braucht Kohlenberger ein ganzes Buch?
Ich will der Autorin nicht Unrecht tun und mich weiter bemühen: Es geht Kohlenberger darum, dass „wir“ Flüchtlinge menschlich behandeln. Also so wie wir uns selbst. Es fängt gleich an, schwierig zu werden, denn wer ist „wir“?
Leider geht Kohlenberger nur sehr parolenmässig auf diese Problematik ein. Sie müsste sich eigentlich mit Omri Boehm zusammentun, der darüber, wer „wir“ ist ein eigenes Essay schreibt namens „Radikaler Universalismus“.
Die beiden treffen sich im Grunde genommen bei dem Gedanken und der Diskussion darüber, ob der in der Charta der Menschenrechte festgelegte, eigentlich auf Emanuel Kant zurückgehende Grundsatz „alle Menschen haben von Geburt an die gleichen unveräusserlichen Rechte“ , tatsächlich für „alle“ gelten. Auch für die, die ausserhalb der jeweiligen nationalen Grenzen leben?
„Ja, natürlich“, meint Kohlenberger, „kommt darauf an, das ist zu diskutieren“, meint Boehm, der eigentlich auch dafür ist, aber sich mit denen auseinandersetzt, die „alle“ enger fassen, nämlich im Sinne von „wir“. Wobei wir beim Ausgangspunkt angelangt sind: wer ist „wir“?

Angenommen, man kommt zu dem universalen Gedanken, dass „alle“ tatsächlich alle heißt und nicht nur eine bestimmte Interessengruppe umfasst, dann muss immer noch verhandelt werden, wer um Himmels Willen diese Rechte einfordern und verteidigen und dafür gerade stehen soll, nämlich die von allen! Die Migranten selbst? Können es oft nicht, weil sie zu schwach dazu sind, an Einfluß, Macht, Zahl. „Wir“? Will heißen eine ganz bestimmte Nation? Gar alle Nationen zusammen? Eine Illusion!!! Möglicherweise ist (zunächst) doch Pragmatismus angesagt.

Eine einzelne Nation – welche auch immer – ist nie und nimmer dazu imstande, die Menschenrechte der gesamten Menschheit zu verteidigen, zu fordern und zu schützen. Wie sollte das auch gehen?
Es gibt keine Antwort darauf im Buch. Nicht in dem von Boehm, nicht in dem von Kohlenberger, die sich gar nicht weiter mit diesen Gedanken befasst, sondern gleich mit umfassenden Forderungen aufwartet. 

Eine andere Gedankenlinie geht dahin, dass es eigentlich gar keine nationalen Grenzen gäbe, die seien willkürlich gesetzt und dahinter verschanzten sich jeweilige Interessenverbände, namens Volk. Das ist falsch.
Es hat von Anfang an zwar keine konkreten Linien gegeben, die man in einer Karte verzeichnete, aber es existierten Stämme, sprich erweiterte Familenverbände, die ihr Territorium mit Gewalt verteidigten (Die Existenz dieser Stämme/Familien wird von Hanno Sauer in "Moral" bestritten). Insofern gab es sowohl Grenzen schon immer wie auch das so sehr verabscheute und verurteilte „Othering“, ja, wenn man so will, ist das „Othering“ ein direktes Erbe der Evolution.
Meint Kohlenberger wirklich, ein Beseitigen aller Grenzen würde die Migrationsproblematik lösen? Wer aber regiert dann, wer verwaltet und zwar wieviel? Wenn sich nichts begrenzen lässt? Grenzenlosigkeit würde direkt zur Anarchie in ihrer wüstesten Form führen, zum Recht des Faustschlags.

Wiederum ein anderer Gedanke, den ich verstanden habe, dreht sich darum, dass zu Coronahochzeiten zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund wichtige Systemerhalter gewesen seien, weil sie überwiegend im Niedriglohnsektor arbeiten (Krankenpfleger, Reinigungskräfte, Kassierer, Lageristen, Fahrer, etc. etc.) und gleichzeitig diejenigen gewesen sind, die am wenigsten geschützt gewesen und wiederum gleichzeitig diejenigen seien, die sich am häufigsten haben impfen lassen. Bravo. Aber ist es nicht überall auch „normal“, wenn auch nicht wünschenswert, dass Migranten „unten“ anfangen, schon allein mangels Sprachkenntnissen? Nein, ich will das nicht rechtfertigen, aber es gibt so etwas wie Schicksal. Wer kann denn etwas dafür, dass Menschen Flüchtlinge werden? Das Aufnahmeland? Gewiss nicht. Aber es soll die Verantwortung für diese Menschen tragen. D a s  ist paradox.

Wieder ein anderer, an oben anknüpfender Gedanke Kohlenbergs: Von Migranten wird eine Intergrationsleistung gefordert, aber sie soll auch nicht zu weit gehen; insbesondere muslimische Migranten sollten keine einflussreichen Positionen erringen. Das ist zum Teil vielleicht richtig, aber zum Teil auch falsch. Es gibt sehr wohl geachtete muslimische Politiker, Ärzte, Rechtsanwälte, etc. etc. Insofern ist es falsch.  

Zum Teil, der daran richtig ist, Vorbehalte und Ressentiments gegenüber Muslimen, näher gefasst gegenüber dem Islam, müsste man  das Sachbuch Hamed Abdel-Samads „Islam – Eine kritische Geschichte“ heranziehen, das begründet, dass nicht alle Vorbehalte muslimischen Mitbürgern gegenüber gegenstandslos und falsch sind. Aber auch dieses Faß läßt Kohlenberger ungeöffnet!

Letztlich meint Kohlenberger, alle Menschen müssen menschlich behandelt werden und verdienten behördlichen Respekt. Warum sagt sie das nicht einfach und verklausuliert alles in unnötiger komplizierter Weise? Don’t know.
Lösungen grundsätzlicher Art bleibt sie freilich schuldig. Wahrscheinlich, weil es keine gibt, solange die Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen, ihre Staatsbürger unmenschlich behandeln. Denn das ist die Quelle des Übels.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Der Sachverhalt ist im Grunde einfach, die Lösungen aber sind schwierig:Keine einzelne Nation der Welt kann das Elend der ganzen Welt lösen. Und wenn die halbe Welt schreit „ich habe ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben“, dem im Prinzip beizupflichten ist, wer sollte dieses Recht einlösen und die Verantwortung dafür übernehmen? Zumal die entsprechenden Wissenschaftler und Migrationsforscher, wenn ich Omri Boehm richtig verstanden habe, eine göttliche, abstrakte Ableitung dieser Rechte vehement bestreiten. Allerdings wäre es ein Ziel globaler Politik, alle Staaten dazu anzuhalten, allen ihren Staatsbürgern ein menschenwürdiges Leben zu emöglichen. Globale Politik - das ist die Richtung, die eingeschlagen werden muss.

Fazit: Zu kompliziert, zu tendenziös, durch ideologischen Sprachgebrauch beinahe unlesbar.

Kategorie: Sachbuch. Migration.
Auf der Longlist Deutscher Sachbuchpreis 2023
Verlag: Kremayr & Scheriau, 2022

Kommentare

Emswashed kommentierte am 29. August 2023 um 08:37

Hmm, also kann ich mir das Buch schon mal sparen.

wandagreen kommentierte am 29. August 2023 um 10:17

Bevor du das so entscheidest, könntest du noch die 5SterneRezis auf Amazon lesen - die Leser dort scheinen klüger zu sein als ich und bejubeln das Buch.

Emswashed kommentierte am 29. August 2023 um 20:01

Ich finde Du hast die Defizite des Buches sehr klar dargestellt. Und außerdem A... , da fehlt mir oft das Vertrauen.