Rezension

Ungewöhnlicher, märchenhafter Roman

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

Bewertet mit 3.5 Sternen

Die biografische Fernerkundung der Vergangenheit

„Von manchen Sehnsüchten wissen wir gar nicht, dass wir sie haben, bis wir auf sie stoßen: Ich war zum ersten Mal in meinem Leben angekommen.“

Inhalt

Ruth Schwarz hat die leidvolle Aufgabe, nach dem Unfalltod ihrer Eltern, deren letzten Wunsch zu erfüllen. Da beide in der österreichischen Gemeinde Groß-Einland, die seltsamerweise auf keiner Karte verzeichnet ist, aufgewachsen sind, möchten sie dort auch ihre letzte Ruhestätte finden. Ruth gelingt es, die mysteriöse Gemeinde aufzuspüren, deren Paradoxon sehr gut zum Thema von Ruths Habilitation passt: Die Zeit scheint hier stillzustehen, Monate vergehen wie Stunden und die Vergangenheit ist ebenso präsent, wie die Zukunft. Die junge Frau, fühlt sich dort aufgehoben und verliert ihr ursprüngliches Ziel schnell aus den Augen. Stattdessen erwirbt sie das Geburtshaus ihrer Eltern und tritt in die Dienste der Gräfin, die als adliges Oberhaupt der Gemeinde gilt. 

Denn Groß-Einland hat ein elementares Problem, welches Ruth durch ihre Kenntnisse der Physik möglicherweise beheben könnte. Vor Jahrzehnten war der Ort ein Bergbaurevier und die diversen Grabungen an allen möglichen Orten der Stadt führen nun dazu, das immer mehr Erdschichten absinken und mit sich die Häuser und Gebäude in die Tiefe reißen. Ganz in der Nähe des Marktplatzes befindet sich das wohl gefährlichste Objekt, ein Loch welches wie ein wildes Tier diverse Erdschichten verschluckt. Doch obwohl die Gräfin wünscht, dass Ruth der Natur Einhalt gebietet, indem sie die Gesteinsschichten vor dem Verfall bewahrt, so vehement wehrt sie sich gegen deren Erkundungen, warum der Boden so löchrig ist und wer oder was unter den bereits eingestürzten Gebieten ruht …

Meinung

Der Debütroman der niederösterreichischen Autorin Raphaela Edelbauer, verspricht eine magisch-mystische Erzählung in Verbindung mit einer spannenden Geschichte über die Opfer der Vergangenheit und den Wunsch Einzelner, Verborgenes im Verborgenen zu belassen. Tatsächlich bietet dieser ungewöhnliche Ansatz ein buntes Potpourri an Menschen, Ereignissen und Unterlassungen, sowie eine faszinierende Ausarbeitung einer eher schlichten Thematik, die auf den ersten Blick recht unscheinbar wirkt und es letztlich auch bleibt. 

Die Lektüre lebt gerade zu Beginn von den Unwahrscheinlichkeiten und mysteriösen Begebenheiten, entwickelt sich aber in ihrem Verlauf zu einer Art Erkundung der Familiengeschichte, die direkt mit den Ereignissen vor Ort verknüpft zu sein scheint. Irgendwie muss man sich auf den Plot einlassen, erinnert er doch stark an ein Märchen und beschwört genau solche Bilder herauf, die dazu passen würden. Die Protagonistin selbst ist kein einfacher Mensch und lebt zwischen ihrer Drogenabhängigkeit und der Lethargie einer heimatlosen Seele, so dass man ihr die Ermittlungsarbeit nicht so ganz zutraut, doch im Anbetracht der nicht verrinnenden Zeit, der statischen Probleme und ihrer gewissenhaften Erledigung des Arbeitsauftrages, dringt immer wieder eine glasklare Entwicklung in den Vordergrund: In Groß-Einland schlummern Dinge, die bisher niemand hinterfragt hat, die möglicherweise vertuscht wurden und sich nun mit Macht ihren Weg an die Oberfläche bahnen. 

Meine Kritikpunkte beziehen sich in erster Linie auf die Gestaltung des Textes, der gerade im Mittelteil unschöne Längen hat. Angefangen mit den hundertsten und tausendsten Veränderungen in einer ohnehin erdachten Welt, hin zu unbedeutenden Gesprächen in der Ortskneipe und stundenlangen Aufenthalten in der Bibliothek, zur Recherchearbeit an der Chronik. All das hat mein Lesevergnügen zusehends geschmälert, zumal keine bahnbrechenden Neuigkeiten zu Tage gefördert werden. Und obwohl Ruth zunächst ein wahres Zuhause in dieser unbekannten Gegend gefunden hat und so etwas wie Wärme und Geborgenheit empfindet, muss auch sie einsehen, dass ihre neue Heimat nicht für die Ewigkeit gemacht ist.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 Sternen aufrunde für diesen innovativen, märchenhaften Roman, der den Leser in eine kleine Welt entführt, die sich gar nicht weit von der unsrigen in einem kurzen Abschnitt zwischen Raum und Zeit befindet. Die Ansätze bezüglich wichtiger Themen wie Herkunft, Familie, Zuhause werden jedoch von den Ereignissen vor Ort immer wieder überlagert und verschmelzen zu einem eigenartigen Gebilde aus Fantasie, Geschichte und Realität. So wie es der Protagonistin ergeht, so vollzieht sich die Wirkung auch beim Leser: man ist immer unterwegs, entdeckt etwas Neues, findet eine Antwort und stellt im gleichen Augenblick fest, wie unbedeutend sie ist. Das Buch bringt unterhaltsame Stunden in einem Paralleluniversum mit sich, hinterlässt aber keinen bleibenden Eindruck bei mir.