Rezension

Wenn der Boden unter den Füßen wegbricht

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

Ruth Schwarz arbeitet schon seit Jahren an ihrer Habilitationsschrift über eine alternative Theorie der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind demnach nicht aufeinanderfolgende Zeiträume, sondern sie existieren nebeneinander, wenn es sie denn überhaupt gibt. "Nun sagen wir, dass meine Habilitation in mein Leben hineinexpandierte, dass sie wie ein Tumor begann, die anderen Gewebe zu verdrängen."  Aus dieser Verquickung wird Ruth durch den Unfalltod ihrer Eltern herausgerissen. Sie möchte sie in Groß-Einland, ihrem Herkunftsort, begraben. Doch das ist schwieriger als gedacht, denn der Ort findet sich auf keiner Karte. Ruth taucht in die Erinnerungen ein, begibt sich auf die Suche und findet durch einen Zufall tatsächlich die kleine Stadt. Auf den ersten Blick wirkt sie idyllisch, doch das täuscht: Unter der Stadt befinden sich weit verzweigte Bergbaustollen, ein riesiger Hohlraum, der immer weiter absackt; die Gebäude sind vom Einsturz bedroht. Doch niemand scheint diese Gefahr ernst zu nehmen; statt dessen wird über Jahre ein großes Fest als Touristenattraktion geplant, bei dem der Hohlraum aufgefüllt werden soll. Auch über anderes wird geschwiegen: Wohin sind die Zwangsarbeiter der Nazizeit verschwunden? Wo verlieren sich die Spuren von Ruths Großvater? Und was haben ihre Eltern in der letzten Zeit vor dem Unfall in Groß-Einland gesucht?

Der Roman hat surrealistische Züge und erinnert an Kafka; über dem Städtchen liegt das Schloss. Unmögliches, Unlogisches wird ohne Erstaunen hingenommen. Wie in einer Parabel steht hier manches Bild für etwas Anderes. Macht das Verdrängen der Vergangenheit den Boden brüchig, auf dem wir stehen? Vergiftet das Zukleistern von Tiefen das Leben? Gibt es Parallelen zwischen der psychischen Verletzbarkeit des Einzelnen (Ruth ist medikamentenabhängig) und der kollektiven Verleugnung? 

Die Parabel wird nicht eindeutig aufgelöst, es gibt keine klaren Zuschreibungen. Ich hätte mir deutlichere Zusammenhänge gewünscht, doch ich muss zugeben, dass das nicht zum Buch gepasst hätte. So kann ich sagen: Ich war über weite Strecken des Buches fasziniert, nicht nur vom ungewöhnlichen Inhalt, sondern auch von der Sprache. Und wenn die Autorin ein neues Buch herausbringt, werde ich es mir sicherlich mit Spannung ansehen.

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2019.