Rezension

Unhinterfragbarer Wertekanon

Radikaler Universalismus -

Radikaler Universalismus
von Omri Boehm

Bewertet mit 3 Sternen

Kurzmeinung: In der intellektuellen Blase angesiedelt

Die Frage, die die Philosophen quält, ist die, ob es einen absoluten Wert gibt, der über allen anderen Gesetzen stehe und der dennoch allen Menschen eingängig erscheint, genannt „universeller Humanismus“. Dieser wäre dann verbindlich und nicht mehr hinterfragbar. Dieser universelle Wert, sagt Omri Boehm, wird heute von allen Seiten negiert, so dass „ … die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, … die Linke im Namen von Gender und Race“. Zurück geht die Annahme einer allen individuellen Interessen übergeordneten Wertigkeit letztlich auf die christliche Religion bzw. auf den christlichen Gott. Im letzten Teil seines Essays geht Omri Boehm sehr ausführlich auf diesen Ursprung ein. In diesem letzten Teil schlägt er allerdings einen intellektuellen Purzelbaum, auf den einzugehen (und zu widerlegen) den Rahmen dieser Rezension sprengen dürfte.
Gedankenausflüge machen wir bei der Lektüre zu Spinoza, Nietzsche, Kant, die gesamte amerikanische Bürgerrechtsbewegung, etc. etc. Das Problem ist immer wieder dasselbe: geht es um Macht oder um Recht? Wer die Macht hat, kann seine Interessen durchsetzen. Was aber ist die Wahrheit, was ist Gerechtigkeit? Ist die Durchsetzung seiner Interessen dann die Wahrheit, wenn man sie einfach als gerecht deklariert? Oder ist die Wahrheit ein Begriff, den die Gesellschaft opfern sollte?
Um jetzt den guten Kant ins Spiel zu bringen, den wir immer brauchen, wenn Philosophen Bücher schreiben, gilt es, selber zu denken und selber zu entscheiden (aufgrund von ganz vielem und langem Denken, nicht einfach so aus dem Bauch heraus), was „gerecht“ ist. Unser Immanuel nennt die Fähigkeit des Menschen, selbständig zu denken, den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Das ist einer der markigen Sprüche von Kant, die zu kennen, sich lohnt. Das heißt, man solle sich nicht auf andere, auf Vordenker verlassen, sondern alles und jedes hinterfragen. Das können natürlich nur wenige, sagt Kant (weil es kompliziert ist), es sind die Auserwählten, die dann die anderen belehren. (Wie nett, diese Belehrenden sind wahrscheinlich die Philosophen, dafür werden sie ja bezahlt, bzw. freigestellt, um den ganzen Tag zu denken und Bücher wie das vorliegende zu schreiben und miteinander darüber zu streiten).
Das Problem hierbei ist nur, dass niemand, absolut niemand, frei ist von dem Einfluss der Vordenker, denn alle Menschen sind irgendwie sozialisiert, beeinflusst, voreingenommen. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ ist also nur bedingt zu verwirklichen, denn dieser „eigene Verstand“ ist längst manipuliert (wenn man es negativ ausdrücken will).

Fazit: Von der Lektüre dieses Büchleins nehme ich nicht allzu viel mit, obwohl es einen Teil gibt, der sich mit Cancel Culture beschäftigt und das an einem sehr eindrücklichen Beispiel. Mir stellt es sich so dar, als ob man heute tatsächlich nur noch damit beschäftigt ist, wer wen dominiert, die Mehrheit die Minderheit oder die Minderheit die Mehrheit. Um Wahrheit schert sich keiner mehr. Sie wurde längst auf dem Altar des Machtkampfes verbrannt. Daran ändert (erst einmal) ein verkopftes kleines gut gemeintes Büchlein, das allerhöchstens interdisziplinär von Belang ist, gar nichts.

Kategorie: Sachbuch. Philosophie.
Verlag: Ullstein, 2022
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