Rezension

Vater?

Mein fremder Vater - Sorj Chalandon

Mein fremder Vater
von Sorj Chalandon

Bewertet mit 4 Sternen

Was er nicht alles gewesen sein will, dieser Vater: Fallschirmjäger, Prediger, Sänger, Judolehrer, Profifußballer, Berater von Charles de Gaulle. Und nicht zuletzt: Geheimagent. André Choulans, der Anfang der 60er-Jahre mit seiner Familie in Lyon lebt, ist kein normaler Vater, er ist ein Aufschneider und Tyrann. Er terrorisiert seinen Sohn Emile, verhängt absurde Strafen und bedrängt ihn mit seinen verqueren politischen Ansichten. Ein ergreifender Roman über eine schreckliche Kindheit, in der sich absurde wie tragikomische Szenen abwechseln – auf dem berührenden Weg eines Sohnes weit weg von einer Familie, die nie eine war. (dtv-Verlagsseite)

Man liest mit offenem Mund … das gibt’s doch nicht … das ist doch unmöglich … so ein Irrer … so ein total irrer Vater. Je weiter man liest, desto irrer werden Vater und Handlung. Völlig durchgeknallt. Einer, der seinem Sohn ein Fahrrad verspricht, sobald er de Gaulles getötet habe. Der seinen Sohn als Geheimagent akquiriert. Der seinen Sohn für Frankreichs Zukunft verantwortlich macht. Der das heiß ersehnte Weihnachtsgeschenk seines Sohnes zerbricht.
Dem gegenüber lesen sich Prügel, Einsperren im Schrank, Essensentzug und Beschimpfungen beinah wie Taten eines „normal“ brutalen und gewalttätigen Vaters. Er isoliert Sohn und Ehefrau von anderen, von Familie, Freunden und Nachbarn; er sorgt für ein ständiges Klima der Angst und Bedrohung; er manipuliert den Sohn bis dieser glaubt, seine Gedanken, sein Verhalten und seine Leistungen seien schuld an Vaters Gebaren.

Die Mutter wird als Opfer zur Komplizin des Vaters, die zwar unter der Gewalt gegen den Sohn leidet, aber nicht in der Lage oder willens ist, sich ihrem Mann entgegen zu stellen. Im Gegenteil, sie versucht, beim Sohn Verständnis für den Vater zu erheischen.

Wäre „Mein fremder Vater“ ein fiktiver Roman, könnte man Chalandon Übertreibung und Unglaubwürdigkeit vorwerfen. Doch das Buch ist, laut Autor, autobiographisch. Er hat es erst nach dem Tod des Vaters schreiben können und die tatsächlichen Ereignisse und Lebensweisen passagenweise verändert, so dass die noch lebenden Personen wie seine eigenen Kinder von den Enthüllungen nicht erfasst werden.

Im Allgemeinen endet eine gewaltsame Kindheit mit der Selbstständigkeit und der Trennung von den Eltern. Hier nicht. Hier sind es die Eltern, die aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen und Émile ohne Möbel und Hausrat in den leeren Räumen zurücklassen.

Alle drei bisher ins Deutsche übersetzten Romane des Autors werden von einem Ich erzählt. Immer ist es ein Protagonist, der sich entweder aus den Scherben der Vergangenheit ein neues Leben aufzubauen versucht. Oder der von der Vergangenheit eingeholt wird und scheitert. Auf dem Hintergrund dieses autobiographischen Romans erscheinen Personen der ersten Bücher in einem anderen Licht, vor allem die Vaterfiguren.
Darüber hinaus thematisieren alle diese Romane Krieg und Gewalt, den 2. Weltkrieg, den Irlandkonflikt und den syrischen Bürgerkrieg. In diesem neuen Buch offenbart der Autor seinen affinen, vertrauten Umgang mit Gewalttätigkeit.

Émile packt es trotz seiner erbärmlichen Kindheit, ein zufriedener Erwachsener mit erfüllendem Beruf und glücklicher Familie zu werden. Dass er nur sporadisch Kontakt zu seinen Eltern hat, liegt auf der Hand. Aber wie er mit ihnen umgeht, als sie alt und krank werden … schon wieder lässt er den Leser fassungslos zurück.