Rezension

Verschwiegenes und Verdrängtes der Nachkriegszeit

Die Möglichkeit von Glück -

Die Möglichkeit von Glück
von Anne Rabe

Bewertet mit 5 Sternen

Als Stines Großvater Georg Bahrlow stirbt, bereut sie, dass sie ihn kurz vor seinem Tod nicht mehr besucht hatte. Außer zu ihrem jüngeren Bruder hat sie keinen Kontakt  mehr zu ihrer Familie und wird sich  nun bewusst, wie wenig sie über ihren Opa mütterlicherseits weiß. Als Stine bei ihren Recherchen bei Behörden zunächst erfolglos blieb, fragte ich mich, was Großvater Georg  seit 1941 getan und erlebt hatte, bevor er 1961 seine Eva heiratete und mit ihr zwei Töchter bekam. Eine Lücke von 20 Jahren klang verdächtig danach, dass seine Biografie „bearbeitet“ wurde – aber zu welchem Zweck? Dass es von einem 1923 geborenen Mann kein Foto in Uniform, keine Erzählungen über Kriegsverletzungen oder Gefangenschaft geben sollte, erschien mir schwer zu glauben. Die Icherzählerin ist jedoch kurz vor der deutschen Wiedervereinigung in der DDR geboren und als Nachwendekind aufgewachsen. Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus wurde in der DDR als rein westdeutsche Angelegenheit angesehen; Wegsehen, Schweigen und Leugnen hatten sich seit der Nazizeit als Überlebenstaktik bewährt.

In Rückblenden setzt sich Stine zunächst mit ihrer Kindheit auseinander und ihrer Mutter, deren Berufsstand der Pädagogin/Fürsorgerin im Jugendamt Zwangsadoptionen und die Zwangsarbeit Jugendlicher in „Jugendwerkhöfen“ zu verantworten hatte. Kinder mussten satt, sauber und brav sein, Babys wurden im 4-Stunden-Rhythmus versorgt und dazwischen ließ man sie schreien, um sie nicht „zu verwöhnen“. Zu Stines schlimmsten Kindheitserinnerungen gehörte, dass sie zum Mittagsschlaf gezwungen wurde („dass du ja nicht das Zimmer verlässt!“), während in einem anderen Zimmer der kleine Tim schrie, bis die 4 Stunden vorbei waren, nach denen er laut Plan wieder aus dem Bett genommen werden durfte. Miterlebte Gewalttaten können stärker traumatisieren als selbst erlittene. Diese Ereignisse der 80er des vorigen Jahrhunderts bilden das Gedankengut der Johanna Haarer (erschienen 1934) ab, DAS Fundament  nationalsozialistischer Ideologie, das bis in die 80er Jahre auch im Westen in vielen Bücherschränken zu finden war. Man warf nichts weg, das äußerlich noch wie neu wirkt …

2006, als Stine ungeplant schwanger wird, ist ihre Mutter Monika noch immer überzeugt davon, dass es Stines Bruder Tim „geholfen“ habe, dass man ihn als Baby schreien ließ. Dass ihre Mutter in der Sozialpädagogen-Szene der DDR bestens vernetzt ist, war Stine schon früh klar. Mit welch harten Bandagen Monika nun zu kämpfen bereit ist, lässt sie jedoch sprachlos zurück.  Spätestens in dieser Szene fallen die abwesenden Väter auf. Von Stines Vater ist kaum die Rede und auch vom Vater ihres Kindes hört man nicht, dass er seine Schwiegermutter in spe rauswirft und für Frau und Kind eintritt. Als Stine ihre Kindheit noch einmal durchlebt hat, kann sie endlich die Biografie ihres Großvaters niederschreiben, über die hier nichts verraten werden soll.

Anne Rabes Roman lehnt sich nach ihrer Aussage an eine reale Biografie an. Den Focus auf die Fehler einer Einzelperson (hier Stines Mutter) finde ich grundsätzlich unglücklich, weil er zum erneuten Relativieren verleiten könnte („es hat uns doch nicht geschadet“). Vom Einzelschicksal einer Familie, in der Eltern und Großeltern linientreue Stützen des Systems waren, zieht Rabe souverän einen Bogen über die Tradition des Wegsehens und Leugnens seit der Nazizeit bis zur Nachwendegesellschaft der Nullerjahre. Die Zahl der Gewalttaten an Kindern (auch durch andere Kinder als Täter) sei nach der Wende auf das Vierfache gestiegen, so Anne Rabe. Ihre Liste der kaltschnäuzigsten Gewalttaten an Kindern in Ostdeutschland ist wiederum eng mit dem Leugnen verknüpft und dem Abschieben der Verantwortung auf Systemfeinde.

„Die Möglichkeit von Glück“ ist zwar harter, unbequemer Tobak und durch die Rückblenden nicht einfach zu lesen. Als Enkelin einer DDR-Großmutter und Tochter einer Mutter, die nach Johanna Haarer ausgebildet wurde, wage ich das Urteil: ein wichtiges, exzellentes Buch.