Rezension

Was ist Mensch und was macht einen Menschen aus?

Futu.re
von Dmitry Glukhovsky

Bewertet mit 4 Sternen

In knapp 450 Jahren muss in Europa niemand mehr sterben. Durch eine Formel konnte in der Vergangenheit die Sterblichkeit überlistet werden. Daher hat jeder Europäer das Recht auf ein unsterbliches Leben. Zudem sind so gut wie alle Krankheiten ausgemerzt worden, so dass sich die immerwährend 30jährige Bevölkerung Europas in riesigen Beton- und Stahltürmen in einem Meer aus Komposit vergnügt. Wasser, Lebensmittel, Wohnraum und Energie sind jedoch rationiert, weil die mittlerweile 120 Milliaren Köpfe zählende Bevölkerung jeglichen Rahmen sprengt. Nur die Reichesten der Reichen können sich einen Platz auf dem Dach der Stahltürme überhalb der Wolken leisten und führen dort ein Leben, von welchem man in den engen Gängen, überfüllten Hallen und kleinen Wohnkuben nur träumen kann.
Um dem Bevölkerungswachstum einen Riegel vorzuschieben ist ein Gesetz erlassen worden. Natürlich steht es jedem Europäer frei ein Kind zu bekommen, doch unterzeichnet er damit gleichzeitig sein eigenes Todesurteil. Denn für jedes Kind muss ein Elternteil seine Unsterblichkeit aufgeben und bekommt einen sogenannten Akzelerator gespritzt, der eine beschleunigte Alterung hervorruft und dem Betroffenen noch in etwa zehn Jahre zum Leben und Leiden lässt.
In dieser Welt lebt Jan Nachtigall. Er gehört einer besonderen Bevölkerungsgruppe an, den sogenannten Unsterblichen. Sie sind gefürchtet und werden gemieden, denn sie vollziehen das genannte Gesetz. Sie spüren unangemeldete Schwangerschaften auf, spritzen den Tod auf Zeit und entreißen den Müttern ihre Kinder, die diese nie mehr wiedersehen werden.
Dann bekommt Jan einen Auftrag von ganz oben. Er soll einen Terroristen und dessen schwangere Freundin ausfindig machen und diese ausschalten. Ihm winken ein Karriereschub und damit einhergehend eine Verbesserung seiner Lebensumstände. Jan hat für das Leben in Europa eine sich gravierend auswirkende Phobie vor engen Räumen und Menschenmassen und verbesserte Lebensumstände würden für ihn erweiterten Lebensraum bedeuten. Jan sagt zu, doch läuft alles anders als geplant und schon bald flieht er durch den komplett überwachten Staat mit der schwangeren Annelie im Schlepptau.

Dmitry Glukhovsky zeigt auch hier wieder eine Zukunftsvision auf, die anhand unserer derzeit angestrebten Ziele und gesellschaftlichen Normen als durchaus möglich erscheinen. In dieser oberflächlich betrachteten Utopie stellt sich einem die Frage: Was ist eigentlich Mensch und was macht den Menschen aus?

Primär geht es in diesem Buch um den Protagonisten Jan und seinen inneren Veränderungen. Durch eine schreckliche Kindheit geprägt und dem Staat bedinungslos dienend stößt er auf Ungereimtheiten im System, die er nicht einsehen oder gar verstehen will, die ihn aber doch berühren. Glukhovsky zeigt hier während der eigentlichen Story durch immer wieder grandios platzierte Träume über seine Vergangenheit im Internat auf, warum Jan zu dem Menschen wurde, der er ist. Als Leser hat man einerseits Mitleid mit Jan und ist betroffen über die schreckliche Kindheit, die er durchleben musste. Dennoch möchte man ihn gleichzeitig anschreien und würgen, da manche von seinen Taten aus unserer heutigen Sicht unvorstellbar grausam sind. Doch in seiner Situation, mit seiner Prägung und der an ihm vorgenommenen Indoktrination ist es absolut normal und nachvollziehbar, warum er diese Dinge tut.

Jan wird durch die Umstände, in denen er sich befindet, immer wieder mit Menschen in Berührung gebracht, die gegen das europäische System sind und er beginnt widerwillig eine Veränderung durchzumachen, die für ihn alles andere als leicht ist und sein komplettes Leben auf den Kopf stellt.

Gewürzt wird diese grandios durchdachte und sehr intelligente Charakterstudie durch spannende Sequenzen, grausame Realitäten im Jahr 2455 und einer Gesellschaftskritik, die auch uns im Hier und Jetzt lebenden realen Personen zu denken geben.

Im Europa zu Jans Zeit sind Alte und Kinder verpönt. Sie strapazieren den eh schon viel zu knappen Haushalt und haben keinen sichtbaren Nutzen für die Gesellschaft. So werden sie in Reservaten ausgegrenzt und gelten der regierungskonformen Bevölkerung als abschreckendes Negativbeispiel. Gleichzeitig versuchen Flüchtlinge aus aller Welt in Europa einzureisen und an dem vermeindlich göttlichen Leben dort teilzuhaben. Zudem fühlte ich mich oft vergleichsweise an gewisse Situationen aus dem Dritten Reich erinnert.

Was ist ein Mensch und was macht diesen aus? Ist der europäische Standard anzustreben? Ewig 30jährige, die ihr immer gleiches Leben in Unsterblichkeit in sexuellen Exzessen suchen, egal wo und wann und die in ihrem Stahl- und Komposittürmen blind für das Geschehen außerhalb Europas sind. Europäer, die sich vor grauen Haaren, Falten und nicht gestählten Körpern ekeln und Kinder widerwärtig finden. Bürger, die sich vor der Macht des Staates fürchten und eigentlich nur existierend, ohne Ziele, ohne Träume. Leute, die sich nur durch einem Tablettencocktail durch den Tag retten können.
Oder ist der Mensch derjenige, der auf winzigstem Wohnraum mit einer riesigen Großfamilie leben, begleitet von Alter, Gebrechen und Tod, aber auch von Geburt und beseelt durch Ziele und Träume.

“Future” betrachtet all dies und noch so viel mehr auf eine wirklich lesenswerte, durchdachte und auch überraschende Art und Weise. Der einzige negative Aspekt ist für mich in den teilweise auftretenden Längen zu finden, bei denen sich Glukhovsky in Jans Innenleben und dem inneren Konflikt etwas verliert. Ansonsten hat mir dieses Buch wirklich sehr gut gefallen und ist für jeden Leser zu empfehlen, der über sich und die Gesellschaft und deren mögliche Zukunft nachdenken möchte, der zudem spannende Szenen liebt und einer Priese SciFi nicht abgeneigt ist und mit russischer Fantastik klarkommt. Meiner Meinung nach sollte dieses Buch unbedingt gelesen werden.