Rezension

Wehe, wenn sie losgelassen ...

Ikarien - Uwe Timm

Ikarien
von Uwe Timm

Bewertet mit 5 Sternen

Zufall oder nicht? Meine erste Rezension im ausgehenden Jahr betraf Vesper "Frohburg", der sich thematisch in großen Teilen mit der Nachkriegsgeschichte auseinander setzt. Ebendieses Thema ist auch das des Romans "Ikarien" von Uwe Timm und somit auch meiner letzten Rezension für 2017.

Lieutenant Michael Hansen, der 1932 seinem bereits in die USA ausgewanderten Vater folgte, kommt gegen Kriegsende 1945 in sein Geburtsland zurück. Er soll im Auftrag des US-Geheimdienstes herausfinden, welche Rolle der Eugeniker Alfred Ploetz im Dritten Reich gespielt hat und wie es dazu kommen konnte, dass dieser ursprünglich eher auf dem linken Flügel beheimate gebürtige Breslauer sich für die Nationalsozialisten einspannen ließ. Dazu führt Hansen mehrere Gespräche mit einem langjährigen Weggefährten Ploetz', dem Naziopfer Wagner. Dabei wird deutlich, wie der ursprüngliche gemeinsame Wunsch der beiden, die Gesellschaft zu verbessern, bei Ploetz schon früh immer mehr zu Zuchtprogrammen und Überlegungen zur Sterilisation bzw. zur Ausmerzung der nicht ins Idealbild Passenden führte (Überlegungen, die übrigens auch in den USA und in den skandinavischen Staaten nicht unpopulär waren). Das Dritte Reich öffnete den kühl und ausschließlich rational denkenden Wissenschaftlern wie Ploetz Tür und Tor, die nun ungehemmt ihre zynischen Versuchsreihen durchführen konnten.

Daneben beschreibt der Roman auch die Eindrücke, die der junge Lieutenant in seinem Geburtsland bekommt. Noch kurz in die letzten Endkämpfe verwickelt, gerät er in eine Art Niemandsland, in der die alte Ordnung zwar zusammengebrochen ist, eine neue aber noch längst nicht durchgesetzt ist. Alles schein möglich und für den jungen Offizier bietet sich die Chance, mit requirierter Villa und Nobelauto das Münchener Umland zu erkunden und sich dabei sogar in eine deutsche Kriegerwitwe zu verlieben. Andererseits wird ihm aber klar, wie eng das Schicksal des Sieger und des Besiegten beieinander liegen können. Wäre er nicht mit dem Rest seiner Familie dem Vater gefolgt, wäre er als Wehrmachtssoldat eingezogen worden, wie zahlreiche seiner Altersgenossen und Jugendfreunde.

 

Zugegebenermaßen bin ich bei Uwe Timm, der zu meinen Lieblingsautoren zählt, vielleicht nicht ganz objektiv, aber mich hat der Roman vollends überzeugt.