Rezension

Wenn der Staat seine Bürger nicht mehr schützt ...

Als lebten wir in einem barmherzigen Land -

Als lebten wir in einem barmherzigen Land
von A. L. Kennedy

Bewertet mit 4 Sternen

Anna MacCormic unterrichtet eine fünfte Klasse der privaten Oakwood-Schule und ist während des Lockdowns der Corona-Pandemie damit beschäftigt, den Zusammenhalt ihrer Klasse durch Zoom-Konferenzen aufrechtzuerhalten. Privat lebt sie mit ihrem erwachsenen Sohn Paul und ihrem Partner Sam, der wegen der Pandemie nicht aus Schottland zurückkehren kann.

Die Oakwood scheint eine Modellschule zu sein, die sich besonders bemüht, keine Schüler zurückzulassen, deren Eltern sich keine Privatschule leisten können. Anlässlich eines Gerichtsprozesses in der Gegenwart im Old Bailey gegen ihre ehemalige Theater-Truppe sieht sich Anna unerwartet mit „Buster“ konfrontiert, dem „ungerührten Mann“, der vor 25 Jahren als V-Mann der Polizei ihre Straßentheater-Gruppe unterwanderte und denunzierte. Das OrKestrA  trat damals am Rande von Demonstrationen auf, die sich für eine alternative Gesellschaft einsetzten. Dazu  zählten die Frauen von Greenham Common, der Bergarbeiterstreik, Frauenrechte, Anti-Atom- und Umweltinitiativen. Weil die Truppe sich auf der Seite der Guten einordnete, traf Busters Verrat sie besonders hart. Dieser Verlust von Vertrauen und  jugendlichem Idealismus  ist kein charakteristisch britisches Geschehen. Der Schock  zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit Deutschland während der RAF-Fahndung und mit dem aktuellen Vertrauensverlust, nachdem deutsche  Polizeiwachen als Orte von Straftaten durch Polizeikräfte das Bild des guten Schutzmannes  beschädigten.

Anna arbeitet in einem Beruf, der die Gesellschaft am Laufen hält und täglich Löcher stopft, die „Stilzchen“ an anderer Stelle aufreißen. Mit Stilzchen, die ihre Namen nicht verraten, bezeichnet sie ein Sammelsurium aus für sie hassenswerten Klassenfeinden, die der arbeitenden Bevölkerung das Leben schwer machen: Politikern, Psychopathen, Narzissten, Frauenfeinden. „Buster“ ist offenbar eine Unterart Stilzchen, eine erfundene Existenz, deren Verrat Anna besonders kränken konnte, weil er sie persönlich mit dem Zeigen von Schwäche köderte. Komplett-Fakes wirken offenbar erfolgreich, wenn sie  große Gefühle triggern.  Anna hatte ihre Schüler stets durch Geschichten ermächtigen wollen, „Ungeheuer zu besiegen“, indem sie sie beim Namen nennen.  Ihr persönliches Trauma,  wie ein  „Fake-Profil“ fünf  Menschen verführen und ausnutzen konnte, verarbeitet Anna, indem sie sich schriftlich mit der Gattung  „Stilzchen“ und speziell der Figur Buster auseinandersetzt.

Auf mehreren Erzähl- und Zeitebenen gelingt A. L. Kennedy zielsicher, ihre Leser:innen zu verunsichern,  wer gerade erzählt, ob die Dinge passiert sind wie behauptet und wo in der Geschichte man sich gerade befindet. Nachdem eine  gescriptete Existenz die Bühne betreten hat und selbst die Polizei ihre Bürger nicht mehr schützen kann, scheint es klüger, niemandem mehr zu trauen.

Das Rätseln, in welchem Jahrzehnt ich mich mit Anna gerade befinde und ob sie ihr unbarmherziges Großbritannien gerade erlebt oder fantasiert, fand ich kaum spannend und anstrengend zu lesen. Die nicht zu übersehenden Parallelen zu verwandten, heute wenig bekannten Ereignissen in Deutschland konnten mich dennoch bis zum Schluss fesseln.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 23. Juli 2023 um 19:56

Mich nicht.