Rezension

Wer den Kopf hervorstreckt, lebt gefährlich.

Jena-Paradies -

Jena-Paradies
von Peter Wensierski

Bewertet mit 3.5 Sternen

Exemplarischer Einzelfall.

Als der X. Parteitag der SED in Ostberlin tagt, sind die Funktionäre und die ausführenden Ordnungskräfte besonders nervös, besorgt und übereifrig. Bloß keine Störungen. Bloß nicht durch irgendwelche Unannehmlichkeiten auffallen. In Jena, wo sich die Jugend besonders ungebärdig verhält und es Jugendliche gibt, die vom System her gesehen schon früher auffällig waren, ist man gereizt und angespannt. Außerdem sind Dienststellen vor Ort nicht mit fähigen, sondern vor allem mit systemtreuen Menschen besetzt, manche davon äußerst dumpfbackig, manche direkt bösartig. Aber selbst, wenn sie es nicht wären, die Jugendkultur, die Jugendszene ist dem Regime ein Dorn im Auge. Und dann gibt es noch das ungünstige Momentum.

In die Fänge der Ordnungsmacht geraten einige Jugendliche, die in der Tat unangasst sind, aber es ist nicht mehr als die normale Aufmüpfigkeit von Jugendlichen, der normale Protest von Kindern, die Probleme haben. Warum sie Probleme haben liegt zum Teil am System und zum Teil an ihren Idealen und ihrem Mut, an ihnen festzuhalten, zum Teil an ihrem Charakter, an ihrer Unerfahrenheit, ihrer Dickköpfigkeit, an fehlender Übersicht/Umsicht/Weitsicht. Dies alles wird ihnen zum Verhängnis, als sie von Jena aus zum Zeitpunkt des X. Parteitags nach Ostberlin aufbrechen, um den Geburtstag eines Kumpels zu feiern und es ordentlich krachen zu lassen. Der zuständige Ortsleiter, der rebellische, gefährlich-politische Motive für die Reise in die Hauptstadt vermutet,  lässt sie aus dem Zug holen und es beginnt eine Tortur, eine amtliche Odysee, die zum Tod von Matthias Domasck führt. Völlig unnötig, völlig überzogen, völlig unaufgeklärt. Unter den Tisch gekehrt. Sorry. Kann vorkommen. 

Der Kommentar: 
Im Gegensatz zu Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“, einer Darstellung des Gesamtlebens in der Deutschen Demokratischen Republik, nimmt sich Peter Wensierski den Einzelfall des jungen Mannes Matthias Domaschk vor. Weil es kein Einzelfall ist, sondern exemplarisch dafür steht, was Diktatur sein kann. Man muss die beiden Sachbücher jedoch ergänzend betrachten. „Diesseits der Mauer“ von Hoyer betrachtet die Gesamtheit des Lebens in der DDR, Peter Wensierskis „Jena-Paradies“ betrachtet, was passieren konnte, wenn man den Kopf erhebt und wenn man nicht einverstanden war mit dem Sozialismus.
Natürlich funktionert „so“ Diktatur. Und natürlich funktioniert auch „so“ Diktatur. Es gibt immer Nischen, in denen man verschwinden und sich begrenzt wohlfühlen kann. Wer angepasst ist, lebt überall leichter und unangepasste, rebellische, systemkritische Menschen haben es überall schwer, auch in Demokratien, ich sage nur Feminismus, Klimaproteste, etc. etc. Und wo es keine Gewaltentrennung gibt, können die Rechte des Einzelnen mit Füßen getreten werden. In einer Diktatur gilt der Einzelne nichts, das Kollektiv alles.

Deshalb braucht es Literatur wie „Jena-Paradies“ von Peter Wensierski. Sie ist sinnvoll und hilft der nachwachsenden Generation, Gefahren für die Demokratie zu erkennen. Diese Art von Literatur sollte auch gegen Demokratieverdrossenheit helfen! Demokratie: Meinungsfreiheit. Freie Wahlen. (Weitgehende) Handlungsfreiheit. Pressefreiheit. Das sollten wir alle mehr zu schätzen wissen. Wir sollten helfen, eine bessere Demokratie zu leben, nicht sie kaputtmachen und sie abschaffen wollen, eine Tendenz, die bei mancherlei Gruppierungen zu beobachten ist. Und einen starken Mann an der Spitze der Politik, im Sinne eines Alleinherrschers brauchen wir schon gar nicht!

 Dennoch: Das „Jena-Paradies“ ist kleinteilig geschrieben und detailversessen. Vielleicht muss das so sein. Die Lektüre ist dennoch mühsam. Und ehrlich gesagt, ich habe sie nicht gerne gehabt. Ich habe eine großräumigere Einbindung in die Protestkultur der DDR und ihrer Probleme schmerzlich vermisst; doch in Rückblenden gibt es zumindest einen Fokus auf die Drangsalierung von Soldaten. Allerdings bin ich sicher, dass diese Drangsalierung nicht nur im Osten zu finden war/ist. Nur, dass es im Osten keine Rechtsmittel gab, die man hätte dagegen einlegen können. 

 Fazit: Auf alle Fälle wichtige Dokumentation zu den Auswüchsen der SED-Diktatur. 

Kategorie: Sachbuch. Geschichte. DDR.
Verlag: Ch. Links, 2023