Rezension

Wie Armut und Unwissenheit vererbt werden ...

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah -

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
von Cho Nam-Joo

Bewertet mit 3.5 Sternen

Mani Go ist knapp 40 Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihren Eltern in eine Wohnung außerhalb von Seoul zieht. Im Vergleich zu ihrem winzigen Holzhäuschen in der Stadt bringt der Umzug  der Familie bescheidenen Komfort, aber auch die Unsicherheit, ob der Vater hier wieder einen kleinen Laden oder Imbiss betreiben kann und Mani eine neue Hilfsarbeit findet.

In Rückblicken auf zwei entscheidende Phasen im Leben der Icherzählerin Mani führt Cho Nam-Joo ihre Leser:innen in den von Armut und Unwissenheit geprägten Alltag der Familie Go. Manis Mutter hat offenbar eine leichte geistige Behinderung; sie kann kaum lesen und findet sich nur in ihrer vertrauten Umgebung zurecht. Über das Thema wird nicht gesprochen, so dass für mich offen blieb, ob Manis Vater das Problem  bewusst war. Während der Olympischen Spiele 1988 begeistert sich die 8jährige Mani für die Kunstturnerin Nadia Comaneci und beschließt, selbst   Turnerin zu werden. Mutter Go will ein einziges Mal für ihre Tochter (und damit stellvertretend für sich) etwas Außergewöhnliches erreichen und meldet sie an einer Privatschule mit Sport-Schwerpunkt an.  Die Folgen sind ihr jedoch nicht bewusst und Mani gerät in die peinliche Situation all der Kinder, deren Eltern mit einfachster Schulbildung zwar im Alltag zurechtkommen, aber an Bürokratie und Verwaltung ihres Landes scheitern.

Mani hat bisher u. a. als Bürobotin gearbeitet, jedoch keine betriebliche Ausbildung erhalten. So beschreibt sie in direkter, origineller Umgangssprache wie sie am Arbeitsplatz formal von Miss Go zu Manager Go aufsteigen, jedoch nichts über ihre Firma und die Welt außerhalb lernen konnte. Bevor es zum Umzug aus der Stadt kam, hatte Mani durchschaut, dass sie und ihre Eltern Immobilien-Spekulanten und Politikern nicht gewachsen sind, konnte aufgrund ihrer Vereinsamung jedoch keine Hilfe suchen.

Cho Nam-Joo erzählt aus der Sicht einer circa 40Jährigen die beinahe groteske Geschichte eines Lebens in Armut, deren Figuren arm bleiben, weil die Codes gebildeter Mitmenschen für sie nicht zu entschlüsseln sind. Manis Schicksal, direkt und mit leichter Ironie erzählt, kann stellvertretend für alle Jugendlichen stehen, die niemand darauf vorbereitet hat, die Rolle ihrer überforderten Eltern zu übernehmen.