Rezension

Wie lebt ein Zwölfjähriger nach einem schweren Verlust weiter?

Der Morgen davor und das Leben danach -

Der Morgen davor und das Leben danach
von Ann Napolitano

Bewertet mit 2 Sternen

Gute erzählerische Ideen, nicht ausreichend umgesetzt, sprachliche Mängel, schlechte Übersetzung

Ein sehr schön gestaltetes Cover in luftigem Blau, eine riffelige Struktur und ein Bild, das gut zum Inhalt passt: der Riss im Papier geht auch durch ein Leben, ein Vogel, der in die Freiheit fliegt. Auch der deutsche Titel gefällt mir besser als der amerikanische 'Dear Edward'. Er macht deutlich, dass es zwei Handlungsstränge gibt, ein Davor und ein Danach.

Ein interessanter Anfang, weswegen ich mich auch auf das Buch beworben habe: wir lernen eine Familie kurz vor ihrem Flug kennen, Eltern, zwei Söhne, von denen erst mal der Ältere die Hauptperson ist (obwohl es im Klappentext anders steht), derjenige, der gerade auf dem Weg ist, erwachsen zu werden. Es hat mir gut gefallen, dass er nicht durch den Körperscanner gehen will, dass er selbstbewusst seine Meinung vertritt und seine Entscheidung konsequent durchhält. Sehr bemerkenswert, denn die meisten Menschen gehen den Weg des geringsten Widerstands, er nicht. Der Vater meint, 'er hat eine große Klappe und das wird in diesem Land nicht gern gesehen.' (15). Ich denke zwar, dass eine große Klappe 'dort' viel Aussicht auf Erfolg hat – es gibt Beispiele – aber eine eigene Meinung und Kritik wird wahrscheinlich nicht gerne gesehen, vor allem eine eigene Meinung, die von der der anderen abweicht.

So geht es mir mit dem Buch leider auch: meine Meinung weicht von den Beurteilungen ab, die ich bisher gelesen habe, denn nach der Eingangsszene hat mir die Geschichte zunehmend nicht mehr gut gefallen. Dass sie hart am Kitsch entlang schrammt, wäre für mich noch in Ordnung gewesen, aber nicht die zahlreichen sprachlichen Mängel, die ich später erläutern werde.

Worum geht es? Eine kleine Familie steht kurz vor dem Flug von New York nach Los Angeles und wir lernen nicht nur sie, sondern auch einige Mitpassagiere näher kennen. Dabei weiß der Leser schon vom Klappentext, dass das Flugzeug abstürzen und nur der zwölfjährige Eddie überleben wird, dass es also hauptsächlich um ihn geht und wie er danach mit seinem Leben fertig werden wird. Das ist der eine Handlungsstrang, der zweite lässt uns am Leben einiger ausgewählter Passagiere in einer Ausführlichkeit teilnehmen, die ich als zu viel empfunden habe.

Edward, der nicht mehr Eddie genannt werden will, wird von Tante und Onkel aufgenommen, die sich ihm ebenso verständnisvoll und einfühlsam zuwenden wie die Nachbarin, der Schulleiter und der Therapeut. Edward aber blockt ab, isoliert sich und öffnet sich lediglich der gleichaltrigen Shay aus der Nachbarschaft. Warum es mit Onkel und Tante nicht klappt, kann mir die Autorin nicht vermitteln.

'Das Haus seiner Tante … ist nicht der Ort, den er braucht.' (222)

Die Handlung vollzieht sich abwechselnd im Davor und dem Danach und plötzlich macht die Geschichte einen Zeitsprung von zwei Jahren. Wie es Edward inzwischen ergangen ist, ist mir nicht klar geworden, aber besser geht es ihm nicht.

Wird er es schaffen, sein Leben wieder als lebenswert zu empfinden? Was wird mit der jungen Nachbarin Shay? Was mit Tante und Onkel? Warum ist das Flugzeug abgestürzt und was befindet sich im geheimnisvollen Schuppen des Onkels?

Einige gute Erzählideen tauchen auf, aber auch Ungereimtheiten. Das Ende empfinde ich als ein wenig rührselig, hart am Rande des Kitsches, aber es rundet die Geschichte ab und passt zu diesem nicht sonderlich anspruchsvollen Roman. Damit hätte ich leben können, denn ab und zu darf es etwas Leichtes sein, auch wenn es sprachlich hin und wieder etwas hölzern klang.

Was aber gar nicht geht, ist die schlechte Übersetzung, die sich in inhaltlichen und sprachlichen Fehlern äußert. Ich füge die Beispiel ungeordnet an:

  • 'Dann kletterte er auf das Dach des Autos deiner Eltern.' (72 o.) So spricht keiner und so schreibt man auch nicht.
  • 'Lacey tut eine Portion Kartoffelbrei auf seinen Teller...' (73) - '… tu es hier in den Korb' (80). Vielleicht sollte die Übersetzerin mal nach treffenderen Verben suchen?
  • einzelne Grashalme identifizieren (identify = erkennen) 277
  • Schwülstig: 'Die Atmosphäre zwischen ihm und Shay ist geladen, die Atome geschwollen vor lauter neuen Möglichkeiten.' (346)
  • Sehr seltsam: 'Er wurde aufgebrochen, als er zwölf Jahre alt war.' (378). Wahrscheinlich wurde 'to break …' ungeschickt oder falsch übersetzt.
  • 'Waschraum' im Flugzeug? Gemeint war die Bordtoilette.

Damit soll es genug sein; Mitleser haben noch andere Fehler gefunden.

Mein Fazit: dieses Buch muss man nicht gelesen haben.