Rezension

"Wie wird er sein - Ihr Tod?"

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen - Heike Vullriede

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
von Heike Vullriede

Bewertet mit 4.5 Sternen

Marvin Abel steht mitten im Leben, er ist beruflich erfolgreich, finanziell gut aufgestellt und hat einen Masterplan für die Zukunft. Doch dann wirft das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung ihn komplett aus der Bahn: Diagnose Glioblastom - ein Hirntumor, der tödlich ist. Ihm bleibt nur noch wenig Zeit und die will er sinnvoll verbringen. Aber wie macht man das am besten? Was bleibt zu tun, wenn man weiß, dass man sterben wird: Kämpfen, den Nachlass regeln, den Menschen, die man liebt Lebewohl sagen oder einfach resignieren und den Tod mit offenen Armen empfangen?

Leseeindruck

"Der Tod kann mich nicht mehr überraschen", Vullriedes Erstlingswerk aus dem Jahr 2012, ist bereits das dritte Buch der Autorin, das ich gelesen habe und wie ihre anderen Romane konnte es mich beeindrucken. Verspricht das Cover eine trostlose und ergreifende Geschichte - ja das tut es und es passt wie die Faust auf´s Auge ABER wer Klischees und Rührseligkeit erwartet, dem sei gesagt, dass dieses Buch in jeder Hinsicht zu überraschen weiß. Mit Geschichten über an Krebs erkrankten Menschen ist das so eine Sache. Für meinen Geschmack sind sie oft zu sentimental oder zu abgedroschen, der Protagonist zu sehr idealisiert und der Ausgang zu vorhersehbar. Vullriede zeigt in ihrem Roman, dass es auch anders geht und hat damit meinen Nerv getroffen. Ihre Geschichte ist brutal ehrlich und ungeschönt, der Protagonist Marvin keinesfalls ein reiner Sympathieträger (was im Übrigen auch für die meisten anderen Charaktere gilt) und der Ausgang der Story ... nun ja, lassen Sie sich überraschen.

Der Roman passt wie bisher alle Werke der Autorin in keine Schublade und das ist auch gut so. Wenn man mich danach fragen würde, so würde ich sagen, er ist von allem etwas. Aus dem Leben gegriffen und deshalb auch so eingehend. Das Leben selbst ist nie geradlinig und es gibt nun mal auch keine Gebrauchsanweisung dazu.
"Das Leben tut ja, was es will." (Marvin)

Marvin Abel übt das Sterben, indem er in der Badewanne liegend aufhört zu Atmen, doch ist es so einfach? Wohl kaum, denn Loslassen ist eine der schwersten Herausforderungen im Leben. Und mit dieser Erkenntnis durchläuft er, und damit auch der Leser, sämtliche Phasen seiner Erkrankung. Vullriede lässt ihren Protagonisten allein erzählen und gibt dem Leser damit eine rein subjektive Sicht auf das Geschehen an die Hand. Es ist nicht immer leicht, sich darauf einzulassen, weil Marvins Sicht auf die Dinge teilweise sehr eigen und auch heftig ist. Doch durch diesen Zwang, sich in ihn hineinzuversetzten, erlebt man seine Ängste, Gedanken und Gefühle und auch seinen Verfall hautnah mit. Natürlich ist diese Sichtweise durch Marvin selbst gefärbt.
Die Krankheit verdrängt sein Leben Stück für Stück. Intime Details der Hygiene, der Verlust der Kontrolle, der Schönheit und die Scham, die mit der Behandlung in Form einer Chemotherapie einhergehen, spart die Autorin nicht aus, allerdings sind sie nicht aufdringlich dominant. Es sind diese bewusst eingestreuten Einzelheiten, die die Story noch authentischer wirken lassen.

"Mich ängstig mehr das Sterben, als der Tod. Vor allem aber fürchte ich das, auf was ich nicht gefasst bin. Das, was mich überraschen wird."

Vullriedes Schreibstil ist prägnant und eingehend - geradezu fesselnd. Schnörkellos und mit ironischem Unterton betont sie so einerseits die Schwere des Themas, andererseits mildert sie aber auch die Wirkung. Ein Widerspruch, der funktioniert und mich als Leser in den Bann geschlagen hat. Ich las das Buch mit einer Freundin gemeinsam und im Austausch stellten wir fest, dass diese Art das Thema anzugehen sicher nicht jedermanns Sache ist (Vor allem, wenn man selbst in irgendeiner Form betroffen ist und wer ist das heutzutage nicht?), dennoch ist sie mutig und innovativ und sticht deshalb aus der Masse heraus.

Die Menschen, die Marvin mehr oder weniger auf seinem Weg begleiten, sind schockierend schonungslos in ihrem Umgang mit ihm. Sie gehen ihrem Alltag nach und berichten von Dingen, die sie getan oder gesagt haben, die er nie für möglich gehalten hätte. So zeigen sie dem Todgeweihten ihr wahres Gesicht, legen die Beichte ab, um befreit in ihr eigenes Leben zurückzukehren. Und so bleibt Marvin letztlich die Erkenntnis, dass er lediglich in seiner eigenen Welt leben (und sterben) kann und diese mit keinem mehr zu teilen vermag.

Da ich nichts vom Inhalt vorwegnehmen möchte, ist es schwierig einige konkrete Gedanken hier festzuhalten aber es gibt etliche Passagen im Buch, die mich begeistern konnten. Oft waren es kleine Anspielungen oder Erkenntnisse, die einen philosophischen Touch hatten. Wer und was ist wichtig im Leben? Bin ich noch der Mensch, der ich immer sein wollte oder habe ich mich unterwegs verloren? Es sind Fragen, denen man sich auch ohne schwere Krankheit stellen sollte, denn totgeweiht sind wir schließlich alle, nur wissen die meisten von uns nicht, wann es soweit ist. Marvins Bewusstsein reift parallel zu dem Fortschreiten seiner Erkrankung. Je mehr sein Körper verfällt, desto klarer wird sein Geist und desto größer auch die Erkenntnis darüber, was ihm wichtig ist.

"Merkwürdig, wie viel Leben das Sterben begleiten konnte. Jeder Tag konnte eine neue Überraschung bringen, selbst jetzt noch."

Fazit

"Der Tod kann mich nicht mehr überraschen" ist ein bewegender und fesselnder Roman, der ganz ohne Klischees auskommt. Es ist die Geschichte eines Sterbenden, die unverblümt erzählt wird aber es geht nicht allein um den Tod oder das Sterben, sondern vielmehr um das Leben selbst. Wer sich auf dieses Buch einlassen kann, der wird am Ende wohl doch noch überrascht werden.