Rezension

Zwischen Büchern

Das Haus der zwanzigtausend Bücher - Sasha Abramsky

Das Haus der zwanzigtausend Bücher
von Sasha Abramsky

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Haus voller Bücher, in dem Abend für Abend eine illustre Gästeschar lebhaft diskutierte. Als Kind kam Sasha Abramsky dies ganz selbstverständlich vor. Erst viel später wurde ihm bewusst, welcher Schatz sich hinter der unauffälligen Fassade dieser Londoner Doppelhaushälfte verbarg: Sein Großvater Chimen, der 2010 hochbetagt starb, hatte im Laufe seines Lebens geschätzte zwanzigtausend Bücher zusammengetragen und eine der bedeutendsten Privatsammlungen Englands geschaffen – zugleich ein Spiegel der großen gesellschaftspolitischen Debatten des 20. Jahrhunderts. Diese Erstausgaben, Manuskripte und Dokumente sind eng mit Chimen Abramskys bewegter Biografie verknüpft und zugleich ein Spiegel der großen gesellschaftspolitischen Debatten des 20. Jahrhunderts, mit denen er seinen Enkel nach und nach vertraut machte. Raum für Raum schreitet Sasha Abramsky dieses bemerkenswerte Haus ab, das nicht nur eine außergewöhnliche Bibliothek beherbergte, sondern auch eine Enklave für Denker war – aber beileibe keine unzugängliche, denn Chimens Frau Mimi war eine begnadete Gastgeberin. Ihr ist es zu verdanken, dass der Hillway Nr. 5 zu einem Salon in bester Tradition wurde, in dem die linksorientierten jüdischen Intellektuellen Londons ein- und ausgingen. Liebevoll erzählt Sasha Abramsky aus dem Leben seines Großvaters und dessen einzigartigem Vermächtnis: dem Haus der zwanzigtausend Bücher. (von der dtv-Verlagsseite kopiert)

Zweierlei spricht aus jedem Abschnitt des Buches: Sasha Abramskys Hochachtung vor dem Wissen des Gelehrten Chimen Abramksy und seine Liebe zum Großvater, doch er stellt ihn nicht auf einen Sockel, sondern erzählt auch von Chimens Irrtümern, Fehlern und Schwächen.

Chimen, geboren 1916 in Russland als Sohn eines der bedeutendsten Rabbiner der Neuzeit, emigrierte mit seiner Familie nach London. Zunächst studierte er in Jerusalem, wurde aber vom Ausbruch des 2. Weltkriegs bei einem Besuch in England überrascht und blieb. Zunächst arbeitete er in einer jüdischen Buchhandlung, heiratete die Tochter, und beide traten der Kommunistischen Partei bei. Abramsky, der ein fotographisches Gedächtnis besaß, studierte und sammelte die politische Literatur seiner Weltanschauung, verkehrte mit den Linksintellektuellen aus Politik und Gesellschaft; sein Haus wurde zum politisch-literarischen Salon, und Miriam bewirtete die zahlreichen Gäste mit koscheren Speisen.

Nach dem Bekanntwerden der stalinistischen Pogrome wandte Abramsky dem Kommunismus den Rücken. Fortan galten seine Studien und seine Sammelleidenschaft der jüdischen Literatur quer durch alle Jahrhunderte.

Sein Enkel nimmt sich der Biographie des Großvaters nicht chronologisch an, sondern geht in Gedanken von Zimmer zu Zimmer, wo die 20 000 Bücher unordentlich nach Themen sortiert stehen und liegen. Das macht das Lesen der Biographie zwar mühsamer, gleichzeitig aber interessanter. (Erläuternd muss man dazu sagen: Abramsky besaß ausschließlich Sach- und Fachbücher aus Politik, Geschichte, Philosophie, Soziologie und jüdischer Religion; ein kleines belletristisches Regalbrett gehörte Miriam.)

Anhand der Bücher rollt Sasha das Leben seiner Großeltern auf, erzählt von ihrer Begeisterung für den Kommunismus und ihrem Glauben daran, dass die Zukunft kommunistisch wird. Chimen schreibt glühende Artikel pro Sowjetunion, will die politischen Zustände dort zunächst nicht wahr haben; erst als die Judenverfolgungen unter Stalin publik werden, ändert er seine Meinung. In späteren Jahren vernichtet er seine sämtlichen zu diesem Thema geschriebenen Artikel.

Chimens Tätigkeit als Gelehrter, als ewig Studierender und zugleich als Lehrer beschränkt sich nicht auf das akademische Leben. „Er schüttet mehr Wissen aus, als selbst die fortgeschrittensten Studenten verarbeiten konnten“ (S. 303) Sein offenes Haus bietet ein Forum für Mitstreiter, Studenten, Wissenschaftler und Politiker. Enkel Sasha nennt unzählige Namen, die auch über Englands Grenzen bekannt sind.

Um in Chimens Haus akzeptiert zu werden, muss man Neugier und Intelligenz mitbringen; er gibt sich nicht mit Alltagsgeplauder ab, sondern schätzt geistig anspruchsvolle Diskussionen und Auseinandersetzungen um philosophische Themen, politische Zustände und jüdisch-religiöses Leben. Interessant, dass Chimen und Miriam sich ihr Leben lang nicht so sehr auf den jüdischen Jahwe-Glauben konzentrieren, aber dennoch die Bräuche, Rituale und Gesetze einhalten, „Sie waren jüdisch bis ins Mark“ (S. 232)

Sasha lässt Chimens Bücher lebendig werden: „Wenn man die Bücher aufschlug, erwachten die Menschenrechte zum Leben; traten die Grausamkeiten, …, zutage.“ In der zweiten Hälfte seines Lebens richtet Chimen den Fokus auf jüdische Literatur und sammelt nicht nur bibliophile Kostbarkeiten aus vergangenen Jahrhunderten, sondern auch Manuskripte, Handschriften oder Bibelausgaben, dazu Talmud-Kommentare und Thorarollen. Daneben hält er Vorträge in der ganzen Welt, ist anerkannter Experte für alte Schriften und kommt seinem Lehrauftrag bis zur (ungewünschten) Pensionierung nach.

Eine überbordende Fülle an Material hat Sasha Abramsky zusammengetragen, mit ungezählten Menschen gesprochen und Recherchen betrieben. Bis zur Grenze der literarischen Belastbarkeit fordert er den Leser heraus, sich mit historischen Persönlichkeiten, mit politischen Strömungen und jüdischer Kulturgeschichte auseinander zu setzen.

Bringt man die nötige Konzentration und die Freude an dem ganz besonderen Schicksal eines ganz besonderen jüdischen Intellektuellen der Zeitgeschichte auf, hat man eine der zweifellos besten Neuerscheinungen des Jahres 2015 gelesen.