Rezension

Zwischen zwei Nationen

Eine Geschichte aus zwei Städten - Charles Dickens

Eine Geschichte aus zwei Städten
von Charles Dickens

Bewertet mit 4 Sternen

Dr. Minettes Rückkehr aus der Bastille bedeutet einen Wendepunkt in Lucys Leben. Sie sorgt rührend für ihren Vater, der immer noch zwischen Wahnsinn und Normalität schwankt. Eine feste Stütze hat sie in Mr. Lorry, der eine große Rolle bei der Befreiung spielte und sie auch jetzt nicht im Stich lässt. Lucys Schönheit bleibt nicht unbemerkt und es finden sich viele Bewerber um ihre Hand. Währenddessen beginnt es in Frankreich zu brodeln. Die blutigen Schatten der Revolution bedrohen auch Lucys Glück in England.

Ein ungewöhnlicher Dickens. Die Charaktere bleiben alle blass, sind höchsten typisiert. Trotz der Gräueltaten und zerstörerischen Kraft der Revolution, die gekonnt bildgewaltig beschrieben werden, bleibt der Leser fast unberührt – die Distanz zwischen der Geschichte und dem Leser ist einfach zu groß. Es bleibt alles auf der Ebene eines eindrucksvollen geschichtlichen Werks, in dem nur Schatten menschlicher Schicksale wandeln. Man vermisst Dickens tiefgründigen Humor, seinen komplexen Weltentwurf und seine beißende, doch heitere Gesellschaftskritik. Das Thema ist für diese Herangehensweise auch denkbar ungeeignet. Er hätte sonst Dinge rechtfertigen müssen, die sich nicht rechtfertigen lassen. Liegt mit diesem Buch ein eindrucksvoller Einblick in die Zeit kurz vor und kurz nach dem Ausbruch der Französischen Revolution vor. Die fatale Mechanik der Ereignisse wird offen gelegt ohne Verständnis für eine der beiden Seiten aufkommen zu lassen. Das lässt den Leser aber auch fremd vor den Seiten stehen. Ein Eintauchen in die Welt war mir nicht möglich.

Dass die insel-Ausgabe keinen Erläuterungsteil beigegeben hat, ist sehr schade. Gerade bei diesem für Dickens sehr untypischen Werk, wäre ein bisschen Textgeschichte aufschlussreich gewesen. So bleibt dem Leser eine distanzierte Geschichte, zu der er seinen eigenen Zugang finden muss oder frustriert aufgibt.

Ein Klassiker, der eine Herausforderung darstellt. Einerseits hat Dickens hier ein bemerkenswertes Bild der Revolution vorgelegt andererseits lässt es Empathie und Komplexität vermissen, die den Leser an einer Lektüre fesseln und die er von Dickens auch erwartet. Ich vergebe 4 Sterne, da sich dieses Buch sehr gut lesen ließ, eine ungewöhnliche Perspektive und viel Stoff zum Nachdenken bietet. Allerdings muss man auf alles verzichten, was man an Dickens sonst schätzt.