Rezension

Verliert sich

Das Wohlbefinden -

Das Wohlbefinden
von Ulla Lenze

Bewertet mit 3 Sternen

Die Beelitzer Heilstätten sind etwas ganz Besonderes! Hier erholen sich um 1900 herum Arbeiterinnen und Arbeiter mit Liegekuren, Bädern und Sport von der Tuberkulose. Ein Heilmittel gibt es noch nicht, aber es dämmert die Erkenntnis, dass es auch wirtschaftlich sinnvoller ist, gesunde und erholte Mitarbeiter zu haben, als mehr und mehr Tuberkulosetote. Bei Arbeitszeiten von teils weit mehr als 60 Stunden in der Woche ist Erholung auch dringend nötig.

In ebenjenen Heilstätten trifft die Schriftstellerin Johanna Schellmann auf die Arbeiterin Anna, die durch alle möglichen mysteriösen Vorhersagen und Erscheinungen schon eine kleine Berühmtheit geworden ist. Ein Teil der Insassinnen verehrt sie, ein anderer Teil verteufelt sie. Die resolute Schellmann, die mit den gerade so en vougen spiritistischen Sitzungen eigentlich gar nichts anfangen kann, verfällt aber schnell Annas Charme. Aber was genau ist Annas Beitrag zum literarischen Durchbruch der Schellmann? Und was ist dran an Annas Hellsichtigkeit?

Ich mochte den Teil des Romans, der zwischen 1907 und 09 spielt, sehr gerne. Ulla Lenze zeichnet ein lebendiges Bild einer Zeit zwischen Aufklärung, alten Konventionen und spiritistischer Mode. Auch der Teil in den 60ern war interessant: Hier erleben wir eine einsame, zunehmend verwirrte und gänzlich irrelevant gewordene Schellmann, die aber offenbar noch mit etwas abschließen muss, was Anna und die damalige Zeit betrifft. Etwas sperrig hingegen kam der Teil daher, in dem wir die Enkelin Schellmanns während der Coronazeit begleiten. Die Tücken des Berliner Wohnungsmarktes kamen etwas aufgesetzt daher. Auch war die Enkelin in meinen Augen wenig sympathisch. Darin ähnelt sie zwar der Schellmann, aber deren Figur war doch weitaus vielschichtiger!

Leider hat mich der Roman mit der Zeit etwas verloren. Hintenraus kam trotz Wendung keine Spannung auf. Die Überraschung hat einfach nicht gezündet und die Hellsichtigkeit Annas wird schlicht irrelevant. Ich hatte das Gefühl, mit einem anderen Storytelling hätte man aus dieser Geschichte viel mehr herausholen können. Schade, ich hatte mir bei diesem spannenden Setting weit mehr erhofft!