Rezension

Akribisch und verstörend

Die Wohlgesinnten - Jonathan Littell

Die Wohlgesinnten
von Jonathan Littell

Fast wie aus einem Albtraum erwachend, erreiche ich erstaunt das Jahr 2022 und kann es noch gar nicht fassen, in welche Abgründe mich ein Buch ziehen konnte.

Fiktiv zwar ist der Erzähler Maximilian Aue, aber seine Erlebnisse und Berichte aus dem Zweiten Weltkrieg werden von realen Personen und geschichtlichen Ereignissen bevölkert, so dass auch Aues Privatleben und seine Taten, in diesem Lichte geradezu erschreckend wirklichkeitsgetreu erscheinen und man erstaunt ist, über das Fehlen der nasebrechenden Kopfnuss in den Geschichtsbüchern, die unser Protagonist dem Führer zugefügt haben soll.

Und so deute ich hier schon 2 Eigenarten an, die mir bei "Die Wohlgesinnten" besonders aufgefallen sind. Zum einen wird, bis auf eine gleichnamige Standarte und einem Berliner Platz, der Name, oder vielmehr das Code-Wort für all die Schrecken des Dritten Reichs niemals erwähnt, während all seine Erfüllungsgehilfen, wie Himmler, Göring, Eichmann und viele mehr, ihr Stelldichein geben und zum anderen scheint die Greuel dieser schrecklichen Zeit allein nicht zu genügen, so dass unser Herr Aue auch noch seine persönlichen Abscheulichkeiten zum Besten gibt.

Die Lebensbeichte, wobei eine Beichte die Reue voraussetzen würde, dessen bin ich mir nicht sicher, schreibt unser Protagonist, Sohn einer Französin und eines Deutschen in Frankreich, wo er nach dem Krieg untergetaucht ist und sich als Spitzenfabrikant seinen Lebensunterhalt verdient.

Aue wächst bei seiner Mutter und einem französischen Stiefvater auf, nachdem der leibliche Vater nicht wieder aufgetaucht ist und die Mutter ihn für tod erklären ließ. Nachdem Aue ins Internat geschickt wird, weil er Inzest mit seiner Zwillingsschwester hatte, bricht er jeglichen Kontakt ab und rächt sich, als er alt genug ist, mit dem Fortgang nach Deutschland und dem Beitritt zur SS.

Mit dem Fortschritt seiner Karriere bei der SS, hat der Leser die ersten Hürden der Gewaltbeschreibungen in den zu "säubernden" Dörfern in den frisch dazugewonnenen Ostbezirken des Großdeutschen-Reiches zu überwinden. Die Juden werden noch erschossen, doch bald ist klar, dass es effizienterer Methoden bedarf, um diesen Massen an unerwünschten Material, was auch bald Zigeuner, Geisteskranke und Bolschewisten mit einschließt, Herr zu werden. Jegliche Gefahr des Verrats soll im Rücken gebannt werden, während man noch siegesgewiss gen Moskau marschiert.

Aue ist als Beobachter und Berichterstatter mit dabei und soll Schwachstellen aufdecken. Dabei sind ihm nicht alle Kameraden wohlgesonnen, zumal sie der Korruption und unbeherrschten Gewalt beschuldigt werden. Komplotte werden geschmiedet, Aues merkwürdiges Sexualverhalten erzeugt Gerüchte und ruckzuck findet er sich im eingekesselten Stalingrad wieder, aus dem er mehr tod als lebendig, aber um einen Orden reicher, wundersamerweise wieder auftaucht.

Während seines Genesungsurlaubs begibt er sich auch kurzfristig zum Anwesen seiner Mutter und seines Stiefvaters nach Frankreich und findet dort zwei Kinder vor, deren Herkunft ihm Rätsel aufgeben und eine Reaktion bei ihm hervorrufen, dessen Folgen ihm im Verlauf des restlichen Romans bis zum Schluss verfolgen, aber auch ungesagt bleiben.

Es wäre jetzt müßig die gesamte Geschichte des Buches nachzuerzählen, zumal der Ausgang des Krieges bekannt ist, Aue erlebt die letzten Tage im ausgebombten Berlin, und ich die nachdenklich machenden Passagen dieses 1390 Seiten Wälzers kaum in eigene Worte fassen kann. Es strahlt schon eine gewisse ekelerregende Faszination aus, wenn mit Sprachwissenschaft die Rassentheorie untermauert wird, die Musik für die Reinheit des Herrengeschlechts herhalten muss und im vernichtenden Bombenhagel noch über die Partnerwahl für den Lebensborn nachgedacht wird. Gleichzeitig wird man von Aues abartigen Gedanken an seine Schwester, von seinen verwirrenden Träumen dermaßen aus Zeit und Raum gerissen, dass manche Szenen kaum noch zwischen Vorstellung und realem Wahnsinn zu unterscheiden sind.

Die seitenlangen Absätze, die nicht abgesetzten wörtlichen Reden, die schiere Anzahl der Seiten, all das macht aus diesem Roman einen harten Brocken, schwer verdaulich mit all seinen gewalttätigen Hürden, aber gleichzeitig reißt die Geschichte den Leser mit, er findet keinen Halt mehr und muss bis zum Schluss mitschwimmen, um wieder ans rettende Ufer zu kommen. So erging es mir und so sitze ich hier und frage mich, ob man das Buch je weiterempfehlen kann. Einer der ersten Sätze im Buch bringt es wohl auf den Punkt: "Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir." Wer bin ich, mir ein Urteil über dessen Lesewert abzugeben.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 04. Januar 2022 um 18:18

Rezensent. Wenn du kein Urteil abgeben möchtest, brauchst du keine Rezi schreiben. Stell dir vor, ein Restaurantkritiker sagt nach der Mahlzeit: Ein Urteil kann ich leider nicht abgeben.Hihi. Egal. Ich lese es so oder so nicht. Da hätten mich auch 5 Punkte nicht überzeugen können.