Rezension

Als der Jakobsweg noch ein großes einsames Abenteuer war

Jakobsweg - Carmen Rohrbach

Jakobsweg
von Carmen Rohrbach

Bewertet mit 4.5 Sternen

Eine Frau fragt mich, warum ich denn unbedingt nach Santiago gehen wolle. Das hatte ich mich selbst schon den ganzen Tag lang gefragt, als ich meine geschundenen Beine zum Weitergehen zwang und mir meine Schritte wie Wassertropfen erschienen, die in einer Wüste verdampften.

Dieser Bericht, der Carmen Rohrbachs erste Camino-Wanderung auf dem Camino Francés beschreibt, gefällt mir noch besser als der spätere über ihre Frankreich-Durchquerung, ist dicht und wunderschön geschrieben.

So eine krasse Einleitung habe ich noch in keinem Pilgerbuch gelesen: der plötzliche spontane Entschluss während einer Schreibblockade, den Rucksack zu packen und Hals-über-Kopf loszufahren - und dann läuft sie in St.-Jean-Pied-de-Port einfach irgendwo in die französische Pampa, um eine offene Dorfkirche zum Übernachten zu finden, weil sie kein französisches Geld für eine Unterkunft dabei hat. Wir sind mit dieser Autorin definitiv an eine Abenteurerin geraten. "Als Kind fing ich jedes Jahr eine Ringelnatter, nahm sie mit nach Hause und schlang sie mir, zum Entsetzen meiner Eltern, während der Schularbeiten um den Hals." - In Portomarín sind in der Morgenfrühe noch die Herbergstüren verschlossen. Kurzentschlossen seilt die Frühaufsteherin ihren Rucksack ab und springt aus dem Fenster.

Wenn sie allerdings die Einsamkeit sucht, hat sie sich mit dem Camino Francés den falschen Weg ausgesucht. So dachte ich jedenfalls. Wurde aber bald eines Besseren belehrt: Carmen Rohbach pilgerte dort bereits Anfang der Neunziger Jahre. Offensichtlich war damals noch erheblich nicht so viel los auf dem Camino wie heute. Staunend liest man, dass die Autorin bei der Überquerung des Pyrenäenpasses hinter St-Jean-Pied-de-Port keine Menschenseele trifft. Den Weg nach Roncesvalles habe ich mir lange nicht so abenteuerlich vorgestellt. Sicherlich ist er das heute auch nicht mehr. Aber jedenfalls beschreibt sie ihn sehr stimmungsvoll.

Ich habe mir nicht vorstellen können, dass eine Atheistin so schön über den Jakobsweg schreiben kann. Kann sie aber. Das Kapitel zum Beispiel, in dem sie ihre Übernachtung in einer alten Schlossruine beschreibt, ist ganz außergewöhnlich. Hier erfahren wir auch Spannendes über die Kindheit der Autorin. Sehr überzeugend ist es auch, wenn sie während ihrer Sinnsuche auf dem Weg ihre Flucht aus der ehemaligen DDR in die Erzählung einflicht. Sie berichtet zwischendurch so lebendig und abwechslungsreich über verschiedene historische Figuren wie El Cid, Legenden wie das Hühnerwunder, kommentiert die Geschichten aus ihrem persönlichen Blickwinkel, der nicht immer meiner ist, aber sehr echt rüberkommt. Wie sie ihre Gefühle und ihre Wahrnehmung beim Durchqueren der einsamen und kargen kastilischen Hochebenen beschreibt, ist einfach atemberaubend.

So, genug gelobhudelt. Jetzt kommen die kritischen Punkte.
Die Dialoge mit Atze. Mann, die liegen ihr ja überhaupt nicht. Kommen irgendwie gestelzt daher. Das León-Kapitel war mir entschieden zu langatmig. Immerhin hat sich Atze am Ende in Carmen verliebt. Was ihr überhaupt nicht recht ist.
Die Beschreibungen der Vögel am Wegesrand sind ausnahmslos schön zu lesen, trotzdem verzettelt sich die studierte Biologin hier manchmal geringfügig in ihrer ornithologischen Leidenschaft. Ich weiß wohl, dass es schwer ist, etwas wegzukürzen, was man liebt!
Obwohl Carmen Rohrbach eine wunderbare Schreiberin ist, finde ich hin und wieder kleine Stilschnitzer.
Und mit dem Atheismus ist das natürlich so eine Sache. Immer wieder betont sie, nicht an Gott zu glauben, ist aber überzeugt, die Touristenströme im Kloster von Silo würden den Kreuzgang entweihen.

Das Ende dann aber ist - einfach wunderschön. Überhaupt, Kapitelabschlüsse kann sie. An weitere Publikationen dieser Autorin kann man sich definitiv heranwagen, wenn man eine gewisse Toleranz gegenüber manch kruden philosophischen Wendungen an den Tag legt (die meisten ihrer Betrachtungen sind aber lesenswert und erschließen interessante neue Blickwinkel).
Ich habe großen Spaß gehabt bei der Lektüre.

Wieder der Kontrast - gedrängt die Stadt, menschenleer das Land. Grau besteint sind die Hochflächen, karge Felder dazwischen eingestreut. Ein Schäfer führt seine Herde dem Horizont entgegen.

Kommentare

Arbutus kommentierte am 04. Juli 2019 um 13:12

So ein Mist, jetzt habe ich doch das E-Book erwischt! Dabei lese ich doch sowas gar nicht...

wandagreen kommentierte am 04. Juli 2019 um 18:06

Mach einfach noch mal  beim Hardcover.

Hm, hm, kein Grund, zu denken, Atheisten wären weniger weise ...

Arbutus kommentierte am 13. Juli 2019 um 14:59

Dann kriege ich aber eine Anrantzer von der Community, von wegen unberechtigter Punktnahme und so ...