Rezension

Auf der Mauer, auf der Lauer

Die Mauer - John Lanchester

Die Mauer
von John Lanchester

Bewertet mit 4.5 Sternen

Joseph „Yeti“ Kavanagh muss seinen Wehrdienst auf der Mauer ableisten: Zwei Jahre wird er in der Kälte oben auf der Mauer stehen, die Großbritannien rundum an allen Küsten umgibt, um das Land vor „den Anderen“ zu schützen, die von außerhalb eindringen wollen. Großbritannien (das erstmals auf S. 176 benannt wird) ist zu einer Festung geworden, weil – wie man nach und nach erfährt – die Meeresspiegel angestiegen sind, das Klima sich abgekühlt hat und der Wohlstand auf der Welt noch ungleicher verteilt ist. Der Roman begleitet Kavanagh von der ersten Stunde seines Mauerdienstes in die Kälte, die Nacht und die Gesellschaft seiner neuen Familie. „Obwohl die Mauer absolut senkrecht ist, bekommst du, wenn du direkt darunterstehst, das Gefühl, als würde sie überhängen. Als könnte sie auf dich herabfallen. Als lehnte sie sich gegen dich.“ (S. 11) Mehr als die Hälfte des Romans spielt auf der Mauer, innerhalb der Mauer. Dann muss Kavanagh in die Welt, übers Meer und erlebt mit seiner Gefährtin Hifa die Welt draußen.

Ist das ein „aktueller“ Roman, bei dem es um Klimawandel und Brexit geht? Irgendwie auch, aber dem Autoren John Lanchester ist es nicht um einen politischen oder plakativen Schlüsselroman getan. Lanchester begibt sich in Kavanaghs Inneres und teilt mit dem Leser die Gedanken und Gefühle des jungen Mannes, der ein typischer Vertreter seiner Generation der nach dem Wandel geborenen ist: intelligent, aber antriebsschwach, ziellos und voller Vorwürfe gegenüber der Elterngeneration, die den Heutigen das ganze erst eingebrockt haben: „Die Alten haben das Gefühl, die Welt vor die Wand [sic!] gefahren und es dann zugelassen zu haben, dass wir in die hineingeboren wurden. Und was soll ich dir sagen? Genauso ist es.“ (S. 72)

Der Einstieg in den Roman ist nichts als „betonhimmelwasserwind“. In Gedichten, Empfindungen, Satzkunst widmet sich jede Zeile dem Horizont des Protagonisten – und der ist begrenzt. Begrenzt durch die Mauer und alles, was sie umschließt. Hier ist der Roman grandios und trägt nur Stein für Stein die Barriere ab, die den Blick auf die geänderten Umstände in Großbritannien ab. Was hinter der Mauer ist, erfahren wir nicht: Kavanagh kann es nicht sehen, also sehen wir es auch nicht.

Kavanaghs Seele ist aufgewühlt und hin und hergeworfen durch alle bekannten Probleme der Selbstfindung am Ende der Jugend und darüber hinaus beschwert durch eine Gegenwarts- und Politikverdrossenheit sowie eine Verachtung und heimliche Bewunderung für die herrschende Klasse. Bleiern liegt über ihm eine Entschlusslosigkeit, die sich aus der Perspektivlosigkeit seines Lebens ergibt, denn die Perspektive lautet „betonhimmelwasserwind“.

Als Kavanagh die Mauer hinter sich gelassen hat, ist er immerhin den beton los. Indem die Mauer gesprengt wird, entledigt sich Kavanghs de Mauer, und es bleiben Himmel, Wasser, Wind. Und diese Aufzählung klingt nicht zufällig deutlich positiver. Kavanagh ist nun endlich "entgrenzt": „Wenn ich ein Anderer war und sie Andere waren, dann war vielleicht keiner von uns ein Anderer, sondern wir waren stattdessen einfach nur ein neues Wir.“ (S. 257)

Lanchesters „Die Mauer“ ist ein eigentlich zeitloser Roman über das sich Einmauern, die selbstgewählte Beschränktheit, die Mauer im Kopf.