Rezension

Aus dem Leben gegriffen

Sieben Sekunden Luft -

Sieben Sekunden Luft
von Luca Mael Milsch

Bewertet mit 4 Sternen

Wer ist Selah? Das habe ich mich oft gefragt während ich Luca Mael Milschs Debütroman “Sieben Sekunden Luft” gelesen habe. Wer ist Selah? Das scheint sich auch Selah selbst zu fragen:

     In der Kindheit, in der Selah versucht der Mutter gerecht zu werden. Ihren Stimmungsschwankungen, die das Kind versucht abzuschätzen sobald die Mutter durch die Tür kommt, ihrer Idee wer Selah wirklich ist, ihren Erwartungen.

     In der Studierendenzeit, in der Selah sich zunehmend abkapselt von der Mutter, den Einfluss dieser auf das eigene Leben versucht zu minimieren und doch jedes Treffen mit der Mutter zu einem Rückschlag, einem Gefühl des Versagens wird, denn plötzlich hat die Mutter wieder so viel Macht, beherrscht Gedanken und Gefühle.

     Als Erwachsen*e - überarbeitet und weiterhin verzweifelt auf der Suche nach sich selbst bis zur fast vollständigen Selbstauflösung führen.

Es ist immer Selah und doch wirkt es durch Luca Mael Milschs kunstvoll komponierten Aufbau des Buches fast wie drei unterschiedliche Personen. So wenig wie Selah sich selbst kennt, kann man auch als Leser*in greifen, wer Selah ist. Man spürt förmlich Selahs Verzweiflung über den immer wieder scheiternden Versuch sich von der Mutter zu lösen, die Deutungshoheit über die eigene Identität zu erringen und sich dann vor die Mutter zu stellen und zu sagen “Schau Mama! Das bin ich.”

Doch da ist das langjährige Schweigen über Dinge, die unsagbar schienen und ungesagt geblieben sind, über Dinge die damals noch nicht in Worte zu fassen waren, keine Worte hatten, für die es keine Worte gab. Worte die Selah erst langsam findet.

“Ich will dir davon erzählen, was passiert ist, worüber ich nie sprechen konnte und wer ich heute bin. Fertig. Doch jedes Mal blicke ich in die Augen einer Mutter, die das nicht aushalten kann. Jedes Mal schaue ich in ein Gesicht, in dessen Spiegel sich das Bild von mir nicht erneuern lässt, höre Erinnerungen, die ich nur aus deinen Erzählungen kenne, die dir alles bedeuten, die ich dir glauben müsste.” (S. 191)

Es ist ein Buch über Mutter-Kind-Beziehung, über Identitätssuche. Es ist ein queeres Buch, aber nicht vordergründig, nicht nur. Vielmehr zeichnet es das komplexe Bild einer ganzen Person, das durch vielmehr bestimmt wird als ihre Queerness. Gerade das hat mir so gut gefallen. Dass Queer-sein ein Teil von einer Person ist und als solches im Buch behandelt wird, vielmehr als ein alleinstellendes Merkmal.

Ich wurde hineingezogen in das Buch, konnte so viele der Gedanken Selahs nachvollziehen, wurde emotional mitgenommen, getragen über viele Seiten, auf denen ich ganz bei Selah war. Und dann plötzlich fallen gelassen, in einen unendlich langen Gedankenstrom Selahs angesichts der plötzlich todkranken Mutter. Ein Gedankenstrom, der sich zu wiederholen schien, kein Ventil fand, sich über fast 100 Seiten erstreckte, künstlerisch beeindruckend und doch ließ bei mir an dieser Stelle die Aufmerksamkeit nach. Die einzelnen Gedanken schienen weniger wichtig zu sein, denn sie würden sich ja zwangsläufig wiederholen. Und so habe ich am Ende das Buch mit gemischten Gefühlen zugeklappt, irgendwie unbefriedigt weil mir gerade das Ende nicht greifbar wurde.

Dennoch war es ein unglaublich intensives Leseerlebnis, das mich während des Lesens sehr berührt hat.