Rezension

Beeindruckend wirklichkeitsnah

Die Welt im Rücken - Thomas Melle

Die Welt im Rücken
von Thomas Melle

Bewertet mit 5 Sternen

Thomas Melle wurde 1975 in Bonn geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er ist Autor von erzählerischen Werken und Theaterstücken, daneben übersetzt er aus dem Englischen. Sein Debütroman ‚Sickster‘ (2011) war für den Deutschen Buchpreis nomiert und wurde mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman ‚3000 Euro‘, der ebenso wie „Die Welt im Rücken“ (2016) auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Aufmerksam geworden bin ich auf Thomas Melle jedoch durch seinen Erzählband „Raumforderung“, der 2007 erschienen ist. Mich hatten sein Sprachstil und seine Wortgewalt schon damals tief beeindruckt und so stand ich seinem autobiografischen Buch „Die Welt im Rücken“ gespannt, aber auch eher ängstlich gegenüber, befürchtete ich doch, dass der Autor über seine (und meine) manisch-depressive Erkrankung – auch Bipolare Störung genannt – in einer Form schreiben könnte, die mir zu nahe geht. Und so dauerte es einige Zeit, bis ich dieses Buch endlich zur Hand nahm, weil ich mich gesundheitlich gefestigt genug fühlte, mich mit dem Thema intensiver auseinander zu setzen.

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Belohnt wurde ich mit einem Leseerlebnis der ganz besonderen Art. Thomas Melle erzählt von persönlichen Dramen und langsamer Besserung – und gibt einen außergewöhnlichen Einblick in das, was in einem Erkrankten so vorgeht. Die fesselnde Chronik eines zerrissenen Lebens, ein autobiografisch radikales Werk von höchster literarischer Kraft. Ihm gelingt auf authentische Weise auszudrücken, wofür mir bislang die Worte fehlten und was ich in der Form auch bisher noch nicht gelesen hatte. Einiges, das ich kaum in der Therapie wagte anzusprechen, hatte ich nun verschriftlicht vor mir und fand mich in manchen Gedankengängen und Feststellungen wieder. Anderes habe ich glücklicherweise nicht durchleben müssen, konnte es aber aufgrund der anschaulichen Darstellungsweise nachvollziehen. Es gab mitunter auch Stellen, denen ich nicht ganz folgen konnte, fühlte mich jedoch in die konfuse Gedankenwelt eines Bipolaren stimmig hineinversetzt.

Thomas Melle schreibt über ‚Die Welt im Rücken‘:

„Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik. Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion, jedenfalls um den Versuch einer solchen. Es geht um mein Leben, um meine Krankheit in Reinform.“ (S. 56)

Dieses Bestreben halte ich persönlich für sehr gelungen. Außerdem erklärt er:

„Von daher ist dieses Buch ein Versuch, mich von diesem ewigen Wiedergängertum freizuschreiben. Wenn ich mich nämlich nicht freischreibe, bleibe ich stecken, das weiß ich, und meine Texte würden weiter von diesen Doppelgängern bevölkert und beschwert sein, die letztendlich stets nur auf mich verwiesen, mich bloßstellten und gleichzeitig verbärgen. […] Wenn ich nicht wirklich versuche, meine Geschichten einzusammeln, sie zurückzuholen, die Stimme in eigener Sache unverstellt zu erheben, bleibe ich, auch und gerade im Leben, ein Zombie, ein Wiedergänger meiner selbst, genau wie meine Figuren. Gleichzeitig schreibe ich mich natürlich noch weiter ins Abseits, als ich eh schon stehe. Dann bin ich endgültig als ‚der Manisch-Depressive‘ festgesetzt und stehe alleine in der Ecke. […] Und doch ist es auch genau andersherum: Ich stand seit Jahren schon in der Ecke und verlasse sie jetzt.“ (S. 227)

Ein Buch, das mir vielfach aus dem Herzen spricht und mir das Gefühl gibt, mit meinem Bipolaren Wahnsinn nicht allein auf der Welt zu sein…

Vielen Dank, Thomas Melle!