Rezension

Beeindruckender Roman

Das Mädchen aus dem Zug - Irma Joubert

Das Mädchen aus dem Zug
von Irma Joubert

Bewertet mit 5 Sternen

"...Unterdrücktes Leid wird irgendwann zu etwas wie ein eiterndes Geschwür...Es muss erst aufplatzen und einen Grind bilden, sonst kann es nicht heilen..."

 

Wir schreiben das Jahr 1944 irgendwo in Südpolen. Zwei Mädchen springen aus einem Zug. Eine von ihnen ist die sechsjährige Gretel. Sie hofft, dass beim nächsten Anstieg auch die Mutter und die Großmutter den Zug verlassen können und sucht inzwischen ihre ältere Schwester Elsa.

Jakob Kowalski ist mit weiteren Mitgliedern der polnischen Heimatarmee dabei, Sprengstoff an einer Brücke anzubringen. Es wird ein deutscher Munitionszug erwartet. Doch der Zug kommt eher als erwartet und aus der falschen Richtung.

Einige Tage später treffen sich die Lebenswege von Gretel und Jakob.

Die Autorin hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, der sich über mehr als zehn Jahre erstreckt. Im Mittelpunkt stehen Gretel und Jakob.

Gretel ist ein anpassungsfähiges, tapferes und intelligentes Kind. Ihre Großmutter war Jüdin, sie selbst ist evangelisch getauft. Beides muss sie in Polen verschweigen.

Jakob wächst in einem strenggläubigen, katholischen Haushalt auf. Die Politik macht vor der Familie nicht Halt. Am liebsten würde er gleichzeitig gegen Deutsche und Russen kämpfen.

Das Buch beleuchtet behutsam die Verhältnisse in Polen im letzten Kriegsjahr. Die Uneinigkeit des Widerstandes wird deutlich. Beim Warschauer Aufstand aber finden sich alle Strömungen Seite an Seite. 

Die Autorin versteht es ausgezeichnet, zwei Lebensschicksale in die historische Entwicklung einzubetten. Nach dem Krieg kann Gretel nicht in Polen bleiben. Jetzt trennen sich die Wege von Jakob und ihr.

Das Buch lässt sich zügig lesen und hat mich schnell in seinen Bann gezogen. Der Schriftstil ist leicht lesbar, aber trotzdem tiefgründig. Der Autorin gelingt es beeindruckend, die Emotionen ihre Protagonisten in Worte zu fassen. Die Kälte von Jakobs Mutter ist fast mit Händen zu fühlen, die Zuneigung und das Vertrauen, was Gretel Jakob entgegenbringt, ist der Gegenpol dazu. Und die Gefühle von Einsamkeit und Sehnsucht durchziehen das Buch von der ersten bis zur letzten Seite.

Der Roman führt mich von Polen über Deutschland bis nach Südafrika. Er streift wesentliche politische Ereignisse in Polen und Ungarn nach dem Krieg. Die Einstellungen in Südafrika zu den Vorgängen in Europa werden ausgelotet.

In jedem Fall werden Land und Leute ausführlich und anschaulich beschrieben. Treffende Metapher und aussagekräftige Dialoge zeichnen das Buch aus. Die Grausamkeit von Krieg und Rassenhass wird deutlich dargestellt und geschickt in die Handlung eingebettet.

Eine Person des Buches möchte ich besonders erwähnen. Es ist Grandpa John. Durch seine Lebensweisheit und Güte wird er für  Gretel zu einem wertvollen Begleiter und Ratgeber.

Der Glaube durchzieht das Buch permanent, aber nie vordergründig. Und doch ist es bitter, wenn unterschiedlicher Glaube dort trennt, wo die Liebe Christi eigentlich verbinden sollte. Es ist erstaunlich, dass Gretel an diesem Zwiespalt ihres Lebens nicht zerbrochen ist, sondern immer die Kraft gefunden hat, sich anzupassen.

Das Cover mit dem jungen Mädchen vor dem Zug passt gut zur Handlung. Züge haben im Buch eine besondere Bedeutung im Buch. Während Zug und Brücke eher zum Beginn des Buches gehören, würde ich die ernste junge Frau dem Ende zurechnen.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Persönliche Schicksale wurden in eine tiefgründige und bewegende Handlung eingebettet.