Rezension

Blicke in den Abgrund

Das Hannibal-Syndrom - Stephan Harbort

Das Hannibal-Syndrom
von Stephan Harbort

Bewertet mit 5 Sternen

»An dem Verlauf einer mörderischen Karriere sind viele Menschen beteiligt, nicht nur der Täter. Viele aus dem sozialen Umfeld der Täter tragen ihren Teil dazu bei – auf die eine oder andere Weise. Serienmörder spiegeln durch ihre Taten also nicht nur ihr eigenes Unvermögen. Auf die moralische Anklagebank gehört auch das soziale Umfeld der Täter. Solange wir Ursache und Wirkung dieses Gewaltphänomens nicht verstehen wollen, wir uns weigern, auf menschliche Unzulänglichkeiten rechtzeitig und folgerichtig zu reagieren, bringen wir uns in Gefahr – in tödliche Gefahr.«

Serienmord – das ist der Stoff, aus dem Thriller gemacht werden. Ob auf der Leinwand oder im Buch, die Faszination des Schreckens sorgt für gesteigertes Interesse. Für Stephan Harbort ist die Beschäftigung mit Serienmorden Realität und er setzt seine Energie dafür ein, künftige Taten möglichst zu verhindern.

Indem er erforscht, wie ein Mensch zum Serienmörder wurde, was in ihm vorgeht, wie er denkt und fühlt, kurz: wieso er „es“ getan hat, hofft er Ansatzpunkte herauszuarbeiten, die zum einen die Identifizierung der Täter erleichtern sollen und zum anderen helfen können, einen potentiellen Täter zu erkennen, bevor er aktiv wird.

 

Stephan Harbort ist Kriminalkommissar, Verhaltenswissenschaftler und führender Serienmord-Experte. Unter anderem entwickelte er eine empirische Methode der fallorientierten Rasterfahndung.

Im Rahmen seiner Forschung beschäftigte er sich mit allen zwischen 1945 und 1995 in Deutschland verurteilten 75 Serienmördern, besuchte und interviewte zahlreiche davon. Er wertete Unmengen von Gerichtsakten aus, immer auf der Suche nach Fakten.

Eine möglichst objektive Schilderung ist ihm wichtig, das merkt man immer wieder. Dem forschenden Ermittler gelingt es, menschlich zu bleiben, entsprechende Gefühle und Empfindungen auszudrücken und gleichzeitig den Täter weder als Monster darzustellen, noch ihn zu entschuldigen. (An dieser Stelle: Ich schreibe „der Täter“, weil sich unter den 75 untersuchten 67 Männer und nur 8 Frauen befinden. Diese kommen im Buch aber ebenfalls zu Wort.)

 

Es ist genau diese Art der Darstellung, die mir an den Büchern von Harbort zusagt. Natürlich werden die Schilderungen teils sehr grausam und blutig, sind definitiv nicht für empfindliche Gemüter geeignet, aber sie wirken nicht reißerisch.

Was seine Ausarbeitungen ein wenig unangenehm macht, ist die Verantwortung der Gesellschaft, die immer wieder anklingt und die man kaum abstreiten kann. Wenn man sich die Werdegänge der Täter anschaut, gibt es Dinge, die immer wieder ins Auge springen. Dinge, bei denen man sich als Leser fragt, wieso niemand etwas bemerkt, niemand etwas gesagt hat. Mehr Hin- und weniger Wegsehen könnte womöglich das ein oder andere verhindern.

 

Fazit: Heftige Thematik, objektiv dargestellt. Die sorgfältigen Recherchen und Ausarbeitungen bieten zahlreiche Infos und regen zum Nachdenken an.

 

»Auch der grausamste Täter hat ein Recht darauf, dass Menschen da sind, die versuchen, ihn zu verstehen. Um solche Verbrechen zu begreifen, müssen wir in die dunkelsten Gefilde der menschlichen Seele vorstoßen. Das bedeutet emotionale Schwerstarbeit. Das kann nicht jeder, das möchte nicht jeder. Versuchen wir uns dennoch diesen Menschen zu nähern, ihre Taten zu deuten. Blicken wir in den Abgrund, ins Herz der Finsternis.«