Rezension

Das Leben, ein einziger Betrug?

Betrug -

Betrug
von Zadie Smith

Bewertet mit 5 Sternen

Nichts weniger als Schwindel und Verrat auf allen Ebenen des menschlichen Miteinander behandelt Smith in ihrem neuen Roman und bemüht dafür die Viktorianische Epoche mit seinen Zeitgenossen heran. Das 19. Jahrhundert der Briten ist geprägt von Konventionen und Hierarchie, aber eben auch noch vom Reichtum seiner Kolonien, Sklavenhandel und verarmten Fabrikarbeitern.
In Großbritannien ist es die Familie Ainsworth, insbesondere dem Schriftsteller William, der in stetiger Konkurrenz zu Charles Dickens steht und auf Jamaika die Ländereien des Buckingham Chandos, Hope Estate, das beispielhaft für die Verwaltung und der Skalvenarbeit im Rohrzuckeranbau steht. Diese beiden doch sehr unterschiedlichen Lebenswelten lässt Smith im historischen Tichborne-Prozess (1871) zusammenlaufen, in Gestalt von Eliza Touchet und Andrew Bogle.

Eliza Touchet ist William Ainsworths angeheiratete Cousine. Früh wird sie von ihrem Mann verlassen, kurz danach Witwe. Fast mittellos wendet sie sich an William und übernimmt sogar den Haushalt, als Williams erste Frau stirbt und ihn mit 3 Töchtern zurücklässt. Eliza hatte nicht nur eine besondere Beziehung zur Verstorbenen, sie erfüllt auch William einige pikante Wünsche. Nach einer neuerlichen Heirat Williams mit der deutlich jüngeren Magd Sarah und der Geburt der 4. Tochter, vertieft sich William in seine Arbeit als Autor und Herausgeber eines literarischen Magazin, reist durch Europa, immer bemüht an den großen Erfolg von "Jack Sheppard" wieder anzuknüpfen. Sarah hingegen, aus einfachen Verhältnissen und des Lesens und Schreibens nicht mächtig, interessiert sich für den Klatsch und Tratsch der Londoner Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass sie unbedingt dem aufsehenerregenden Prozess um die umstrittene Anwartschaft des angeblichen Roger Tichborne auf das Familienerbe beiwohnen will. In Begleitung von Eliza Touchet findet sie sich im Gerichtssaal wieder.

Andrew Bogle, Sohn des einst von seinem afrikanischen Thron entführten und zur Sklavenarbeit auf Hope Estate gezwungenen Nonesuch Bogle, hat es dank Nonesuch, zu einer einigermaßen gesicherten Stellung auf der Farm gebracht und führt die Listen und Bücher. Aus dieser Position heraus, hat er die einmalige Gelegenheit mit dem Sachwalter des Chandos-Besitzes Edward Tichborne nach Großbritannien zu reisen. Bogle lernt dort ein gänzlich anderes Leben kennen, der Kontrast könnte nicht größer sein. Zurück auf Jamaika hat sich das Leben seiner Mitsklaven dramatisch verschlechtert. Etwas reift und brodelt in ihm. Und so kehrt er Jahre später mit seinem Sohn Henry und dem vermeintlichen Roger Tichborne, Edwards Sohn, als Fürsprecher und Kämpfer im Gerichtssaal, nach London zurück.

Das Dickicht aus Namen und Orten erfordert Konzentration und eventuell ein paar Notizen, dafür belohnt uns die Autorin aber mit einem opulenten Schaubild einer Kolonialmacht und seinen weltumspannenden Ablegern. Schmerzlich zeigt sie uns die Welt hinter den Kulissen, lässt gesellschaftliche Normen schwanken, dröselt "Schlagzeilen" auf. Mit dem Prozess ermöglicht sie den Gedankentransport von Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen. Nicht der eindeutige Betrug, der hier erkannt und abgeurteilt wurde, sondern die Ambitionen der beobachtenden Massen, dessen Fürsprachen und Argumenten gebührt die Aufmerksamkeit.
Die detaillierten Lebenswege unserer Protagonisten bestechen dagegen durch ihre Abweichungen von der vorherrschenden Norm, durch ihre kleinen Rebellionen im Alltag zementieren sie das echte Leben, dass jenseits aller Geschichtsdokumentationen schon immer existiert hat.

Die Kapitel sind angenehm kurz gehalten. Zadie Smith scheut sich nicht ihre eigene Zunft ein paar mal an den Pranger zu stellen, lässt Eliza in 8 Bänden denken, aus welchem das vorliegende Buch auch besteht und der geneigte Leser und Sammler von Druckerzeugnissen wird gleich zu Beginn in ein Horrorszenario bugsiert. Mit all diesen kleinen Bonmots hielt mich Smith bei der Stange, bereitete mir Vergnügen und öffnete mir neue Perspektiven auf diese Zeit, dieses Land und diese Gesellschaft.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 18. November 2023 um 08:23

Ah Emsi, wunderschön erzählt, vor allem die pikanten Wünsche Williams amüsieren.