Rezension

Das Psychogramm eines leidgeplagten Protagonisten oder der ganz individuelle Umgang mit dem Tod

Erschütterung -

Erschütterung
von Percival Everett

Bewertet mit 4.5 Sternen

In „Erschütterung“ zeigt Percival Everett auf, wie eine Diagnose das Leben einer Familie zerstört. Es gibt wohl kaum eine schrecklichere Vorstellung, als wenn dem eigenen Kind eine unheilbare und tödliche Krankheit unwiderruflich attestiert wird.

Everett lässt genau das den lakonischen Professor für Paläontologie Zach Wells erleben, der bis dato ein unaufgeregtes Leben führt und die Dinge nimmt, wie sie kommen. Für seinen Beruf und die Wissenschaft bringt er nur das nötigste Interesse auf, auch weil er Idealen misstraut. Ebenso führt er mit seiner Frau nur noch aus Gewohnheit und Bequemlichkeit eine Beziehung. Mangels eines Lebenssinns wirkt er in vielen Situationen unentschlossen, wenn nicht sogar depressiv. Lediglich für seine Tochter Sarah hegt er Liebe und pflegt zu ihr ein inniges Verhältnis. Daher reißt es ihm förmlich den Boden unter den Füßen weg, als die Ärzte bei ihr eine tödliche Krankheit diagnostizieren, laut derer das Mädchen in kürzester Zeit erblinden, körperlich und geistig abbauen, unter Krampfanfällen leiden und schließlich sterben wird. Die Erschütterung – auf die bereits der Titel anspielt – ist vollkommen. Zach zerbricht an dem schnellen Verfall seiner Tochter. In dieser ausweglosen Zeit, in der er zum Zuschauen verdammt ist und seiner Tochter leiden sieht, erreicht ihn zufällig ein mysteriöser Hilferuf auf Spanisch, der den Afroamerikaner aus Ablenkung in ein Abenteuer Richtung Mexiko treibt. Wohl auch, weil er weder seiner Tochter noch einer Arbeitskollegin, die schließlich suizidal ums Leben kommt, helfen kann, hat er das Gefühl, zumindest diesem Hilferuf nachgehen zu müssen. Dabei deckt er unter der Sonne New Mexikos ein wahres Verbrechen auf, beweist Herz und Mut und kann so Kraft für die Trauerarbeit schöpfen. 

Der Roman beschränkt sich auf die Perspektive des Professors und nimmt hier insbesondere sein Privatleben und die Beziehung zu Sarah in den Blick. Was die Nebenfiguren denken oder fühlen, kann der Leser nur erahnen, denn alles wird durch Zachs Brille gespiegelt. Dies lässt den Leser aber umso tiefer in sein Leiden eintauchen und seinen Schmerz fühlen. Genauso unfassbar wie der frühe Tod der Tochter bleibt aber auch – trotz der Perspektive – das Handeln und die Reaktionen des Protagonisten. Wie um sich selbst zu beruhigen, werden von ihm innerhalb des Textes mantraartig z.B. ganze Passagen über paläontologische Erkenntnisse eingeflochten, die scheinbar nichts mit dem Kontext zu tun haben und wie Routinen abgespielt werden. Mit dem Verfall der Tochter werden diese Passagen durch Abkürzungen für Schachzüge (Schach war die Leidenschaft von Sarah) ersetzt. Diese scheinbaren Paradoxa zeigen auf, wie unterschiedlich Menschen mit dem Tod und der Trauerarbeit umgehen und zwingen den Leser, sich mit existentiellen Fragen auseinanderzusetzen. Auch wenn der Protagonist sich selbst verurteilt, gelingen ihm fundierte psychologische Reflexionen, die dem Werk auf philosophischer Ebene Tiefe und Gewicht verleihen.

Erwähnenswert ist hier sicherlich auch der selbstironische Ton des Erzählers, der durch viele sprachlich gelungene Bilder untermauert wird und die Lektüre abwechslungsreich gestaltet.

All das macht den Text insgesamt zu einem literarisch überzeugenden Werk, mit dem man sich allerdings konzentriert auseinandersetzen muss, um es annähernd in seiner Tragweite erfassen zu können. Was unfassbar bleibt, ist naturgemäß das Leid, das mit einer solchen Diagnose die Eltern erschüttert. Aber auch diese Tatsache vermittelt der Roman eindrücklich.