Rezension

Der Freund des Opfers

Ein Winter in Paris - Jean-Philippe Blondel

Ein Winter in Paris
von Jean-Philippe Blondel

Bewertet mit 4 Sternen

Der französische Schriftsteller Jean-Philippe Blondel hat mich immer wieder mit bewegenden Lebensgeschichten und raffinierter Dramaturgie begeistert. Dieser Roman zählt zu den eher leisen, melancholischen Geschichten. Er lässt sich in zwei Hälften teilen: Alles, was vor und was nach dem Selbstmord von Mathieu Lestaing geschieht. Dabei spielt dieser eher eine Nebenrolle. Vielmehr nimmt sich der französische Autor derer an, die zurückgelassen werden und sich mit seinem Tod auseinandersetzen müssen.

Da wäre zum einen der Ich-Erzähler Victor, der mit 19 Jahren nach Paris gezogen ist, um Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung an einer Elite-Uni zu belegen. Am Lycée D. findet er kaum Anschluss, lebt einsam und zurückgezogen, bis er in den Raucherpausen Mathieu Lestaing kennenlernt. Es hätte der Anfang einer Freundschaft sein können, doch soweit kommt es nicht: Im Treppenhaus des Lycées stürzt sich Mathieu in den Tod.

Schüler und Lehrer reagieren gleichermaßen betroffen und interessieren sich auf einmal für den „Freund des Opfers“. Besonders der Musterschüler Paul Rialto sucht immer wieder Victors Nähe und verabredet sich mit ihm. Für Patrick Lestaing, den trauernden Vater Mathieus, wird Victor der letzte Anker und fast so etwas wie ein Ersatzsohn. Einerseits genießt es Victor, endlich sichtbar für die anderen zu sein und im Mittelpunkt zu stehen, andererseits plagen ihn Schuldgefühle, da dies auf Kosten des Verstorbenen geschieht. Diese ambivalenten Gefühle beschreibt Blondel mit viel Gespür für feine Nuancen.

Der Roman kreist um Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen, Anerkennung, Leistungsdruck und Einsamkeit. Eindringlich beleuchtet der Autor, wie der Selbstmord eines jungen Mannes den Alltag der Hinterbliebenen auf den Kopf stellt und das Leben doch trotz allem irgendwie weitergeht.