Rezension

Der tiefe Schlaf der Gerechten.

Der Schlafwagendiener -

Der Schlafwagendiener
von Suzette Mayr

Bewertet mit 5 Sternen

Gut bewacht und behütet fühlt sich 1929 die betuchte weiße kanadische Gesellschaft auf der 4000 Kilometer langen Reise mit dem Trans Canada Express von Montreal nach Vancouver. Schließlich haben sie für jeglichen Komfort auf der 3 Tage und 4 Nächte dauernden Fahrt bezahlt und dürfen sich auf die widerspruchslose Erfüllung ihrer Wünsche beim Schlafwagendiener verlassen.

Baxter ist einer dieser Schlafwagendiener, schwarz und ohne Rechte. Er hat gerade einen anstrengenden Dienst hinter sich, als nach einem Personalersatz für den Stolz der der Kanadischen Zugflotte gesucht wird. Baxter tritt auch diese Schicht an, will er doch so schnell wie möglich das Geld für die Weiterführung seines Zahnmedizinstudiums beisammen haben und diese Fahrt verspricht viel Trinkgeld.

Völlig übermüdet erledigt er schon vor Abfahrt des Zuges seine Pflichten, Müll aus den Polsterecken fischen, Handtücher und Bettwäsche zählen (Fehlbestände werden ihm vom Lohn abgezogen), Betten beziehen, die Bestände im Bad auffüllen und schließlich mit blank polierten Uniformknöpfen am Treppchen bereit stehen und den Passagieren mit einem freundlichen Lächeln beim Einsteigen behilflich sein.

Mit scharfer Beobachtungsgabe vergibt er den Gästen Spitznamen, die ihm eine hilfreiche Gedächtnisstütze bei der Einschätzung von Kalamitäten sind. Denn Beschwerden über ihn, werden mit Punktabzug geahndet und schnell ist man seinen Job los. Baxter muss auf besonders leisen Sohlen treten, denn er ist homosexuell, was zu dieser Zeit noch mit Gefängnisstrafe gemaßregelt wird.

Das Publikum ist gemischt und anstrengend. Mutter und Tochter auf dem Weg zur Verlobung, eine Großmutter mit ihrer Enkelin, die gerade die Mutter verloren hat, ein Ehepaar, das sich nicht grün zu sein scheint, der Herr, der in seinem Abteil nicht gestört werden will, aber nächtlichen Damenbesuch erhält und zu allem Überfluss eine Wahrsagerin die mit ihren spirituellen Fähigkeiten alle und jeden aus der Reserve locken will.

Die Lage spitzt sich zu, als Baxter vor lauter Übermüdung immer mehr Halluzinationen bekommt, die im Bad gefundene Postkarte zweier kopulierender Herren, nicht entsorgt, sondern bei sich behält und der Zug in den Rockies an einer Kreuzung durch einen Erdrutsch auf den Gleisen zum Stillstand kommt. Die Geduldsfäden aller Beteiligten sind bis zum Anschlag gespannt... denn nur die Gerechten schlafen einen tiefen Schlaf.

Allgemeingültigkeiten werden wohltuend aufgelöst. Baxter schaut seinen Peinigern nicht in die Augen, er schaut ihnen aufs Maul, denn dort offenbaren sich ihm seine zukünftigen Betätigungsfelder in Form von Überbiss und Zahnstellungen, wenn er denn den Wettlauf zwischen Trinkgeld und fristloser Entlassung gewinnt. Seine schlaflosen Trugbilder mischen sich nahtlos ins reale Geschehen und haben eine hypnotischen Wirkung auf die geneigte Leserin, die sich wirklich über eine gelungene Übersetzung aus dem Englischen von Anne Emmert freut.

Diese Zugfahrt war eine spannende, erhellende, schockierende, aber vor allem eine zutiefst lesenswerte Reise für mich. Allein schon die Umschlaggestaltung eines traumwandlerischen Schwarzen im rosafarbenen Anzug mit Stohhut und Stock, dem ein Frosch aus der Brusttasche kriecht und ein scharfgeschnittener Hase, Igel und Eichhörnchen in der verwaschenen Landschaft zur Seite stehen, lässt das Ziel unseres Protagonisten erahnen, nämlich endlich der Demütigung und Armut zu entkommen, entrückt von jeglicher Wirklichkeit aus Rassismus und Homophobie. Das altrosa und petrolfarbene Innenleben erinnert an die "gute" alte Zeit, als die Züge noch wie Hotels ausgestattet waren. Eine Zeichnung eines Waggons veranschaulicht dies, aber auch der Abdruck einer Stellenazeige "Want a job?" verdeutlicht die rassistische Grundlage für den Luxus, den sich die Reichen erkaufen. Hier hat sich der Wagenbach Verlag in seiner Ausstattung nicht lumpen lassen. Die Sprache Mayrs, mit ihren außergewöhnlichen Bildern, die sowohl treffend, als auch weitgreifend Dinge miteinander verbindet, dessen Bedeutung man in diesem Kontext noch nicht gehört hat, so z. Bsp. die Länge der Reise mit den Tentakeln der Portugiesischen Galeere zu vergleichen, waren ein wahrer Lesegenuss.

Ein vollkommen zu recht ausgezeichneter Roman einer kreativen und einfühlsamen Autorin, von der ich jetzt natürlich mehr lesen möchte.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 24. September 2023 um 19:10

Oh je - Rassismus überall. Man möchte vor Wut über manche Ungerechtigkeiten in seinen Wollärmel beissen.