Rezension

der Wald, das Haus und die Geister

Oben in den Wäldern
von Daniel Mason

Bewertet mit 5 Sternen

Dieser Roman erstreckt sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten. Er beginnt in den Wälder Massachusetts, wo puritanische Engländer Mitte des 17. Jahrhunderts Siedlungen errichtet hatten. Aus den puritanischen Zwängen einer solchen Ansiedlung flüchtet ein junges Paar in die Wälder. Am siebten Tag ihrer Flucht gelangen sie "oben in den Wäldern" an den Ort, an dem sie den Grundstein für eine Hütte legen. Aus der Hütte wird im Lauf der Jahre ein Haus mit vielen Anbauten, Dreh- und Angelpunkt dieser generationenübergreifenden Geschichte.

Das Haus und der Wald, den es umgibt, werden Zeuge kriegerischer Auseinandersetzungen. Soldaten und indianische Ureinwohner tauchen auf. Ein ehemaliger verwitweter Major mit zwei Töchtern erschließt einen Teil des Waldes, indem er dort eine Apfelplantage anlegt. Die Plantage trägt köstliche Früchte, genannt Osgoods Wunder. Dank der Bewirtschaftung als Apfelplantage erlebt das Haus seine Blütezeit.

Dann ein Stilwechsel im Erzählton ein Jahrhundert später. Der Leser hatte sich auf eine sprachmächtige, die Natur in all ihren Facetten grandios beschriebene Erzählung mit biblischen Anklängen eingestellt. Doch nach den Apfelbauern hat sich ein Landschaftsmaler das Haus als Wohnsitz für seine Familie auserkoren. In einem überschwänglich gefühlvollen Briefwechsel erfährt der Leser von der homoerotischen Beziehung des Malers zu einem berühmten Schriftsteller, die im Haus und der es umgebenden Natur ausgelebt wird.

Es geht weiter bis in die heutige Zeit. Das Haus wird u. a. von einem Jäger gekauft, der ein Hotel plant. Vieles passiert im und rund um das Haus, bis schließlich ein Amateurhistoriker dort Entdeckungen macht, die Jahrhunderte zurückreichen und eine junge Studentin auf ganz besondere Weise Kontakt zu den ehemaligen Bewohnern des Hauses erlangt. Alles hängt hier irgendwie mit allem zusammen.

Dieser Roman ist außergewöhnlich. Es wird in verschiedenen Sprachstilen erzählt, die Erwartungen des Lesers werden nach den ersten Kapiteln regelrecht gebrochen, um am Ende des Romans wieder zur anfänglich getragenen, die Natur in den Vordergrund rückenden Sprache zurückzufinden. Auch Parallelen zu biblischen Themen tauchen wieder auf. Zwischen einzelne Kapitel sind Balladen, Ausschnitte aus Kalenderblättern und botanische Zeichnungen eingestreut. Das mutet zunächst seltsam an, ergibt für mich am Ende der Lektüre aber durchaus Sinn.

Ich habe diesen Roman sehr gerne gelesen. Besonders gefallen haben mir die sprachmächtigen Naturbeschreibungen der Flora und Fauna dieser wunderschönen Wälder Nordamerikas. Der Autor erzählt jeweils aus der Position der Handelnden und der Zeit, in der sie leben. Der Apfelbauer Osgood: altertümlich, gediegene Sprache. Jahrhunderte später ein True Crime Reporter: schnoddrig, freche Sprache. Die Beschreibung einer Seancen legenden Betrügerin, die die Hausherrin von ihrer Angst vor im Haus spukenden Gespenstern befreien soll: von entlarvender Komik.

Überhaupt spielen Geister in diesem Roman ein große Rolle. Sie spuken als tote Seelen der einstigen Bewohner über all die Jahre im Haus herum. Das Haus verfällt im Verlauf der Zeit, die Wälder und die klimatischen Gegebenheiten verändern sich, die Apfelplantage verwildert, Ulmen und Kastanien werden von diversen Käferplagen vernichtet, Tierarten sterben aus. Was bleibt sind die immer wieder auftauchenden Geister, die dem Haus und den Wäldern ihre Seele verleihen.

Ein vielschichtiger, fein ausgedachter und sprachmächtiger Roman, der mir sehr gefallen hat. Ich vergebe 5 Sterne. Für Naturliebhaber und solche, die ein Faible für Gespenster und Mystik haben, sehr zu empfehlen.