Rezension

In den Wäldern von Maine - ein Kaleidoskop

Oben in den Wäldern
von Daniel Mason

Bewertet mit 4.5 Sternen

Major Osgood, Berufssoldat und Veteran der so genannten Indianerkriege in New England, war  als 50Jähriger bereits ein alter Mann, als er mit Osgoods Wunder eine herausragende Apfelsorte benannte und mit kleinen Zwillingstöchtern in die Wälder von Maine zog, um dort ein Waldstück zu roden und Äpfel anzubauen. Im kleinen gelben Holzhaus waren die Osgoods nicht die ersten Bewohner; Dokumente erzählen davon, dass an diesem Ort bereits vor ihnen Menschen Schutz suchten. Ein Apfelkern, der in der Nähe des Hauses keimt, stellt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her.

Das Haus liegt selbst für Oakwood/Maine abgelegen. Wölfe und Luchse durchstreifen die Wälder, ein Gang oder Ritt in den nächsten Ort wird zum Tagespensum. Mary und Alice übernehmen als Erwachsene die kleine Apfelplantage, später züchten sie Schafe. Da keine wagt, aus der Zweisamkeit auszubrechen, sterben sie ohne Nachkommen. Das einfache Saltboxhaus wird später einen Landschaftsmaler beherbergen, ein weiterer Besitzer zu Roosevelts Zeiten erkennt Maine als Garten Eden für Jäger und wird eine Luxus-Lodge planen. Die Abgeschiedenheit des Hauses bietet ihren Bewohnern Zuflucht und schöpferische Freiheit. Ob die Einsamkeit der Wälder Maines  psychische Ausnahmezustände eher fördert oder heilt, darüber kann man streiten. In der Gegenwart wird ein True Crime Autor und Hobbyhistoriker eine interessante Theorie zum kleinen, gelben Haus in Maine entwickeln, mit der er jedoch seiner Zeit hinterher hinkt. Masons Figuren waren ihrer Zeit voraus und werden vermutlich erst von späteren Generationen verstanden. Ein origineller Schluss versöhnt damit, dass Ort und Zeit der Ereignisse meist vage bleiben (Indianerkriege fanden zwischen dem 17. Jahrhundert und 19. Jahrhundert statt.)

Daniel Mason erzählt über die Wälder von Maine matrixartig, indem er ein Netz aus Geschichten knüpft, das – anders als ein neu geknüpftes Fischernetz - aus Seilabschnitten unterschiedlicher Länge besteht. Die Schnüre laufen kurzfristig parallel, zerfransen, lassen sich nicht unbedingt zeitlich einordnen, um später wieder aufeinanderzutreffen und  erst dann den Namen der handelnden Person preiszugeben. Menschen roden die Natur, entwickeln Geschäftsideen, flüchten vor großen Gefühlen in die Einsamkeit. Diverse eingeknüpfte Textformen (Briefe, Krankengeschichten, Gedichte, Vorträge, Artikel aus Revolverblättern) liefern mehr Fragen als Antworten. Wie der Apfelkern zu Beginn sind es besonders die kleinen Lebewesen (Insekten, Sporen, Krankheitserreger), die in Masons Kaleidoskop die Elemente verbinden. „Oben in den Wäldern“ ist u. a. auch ein vielstimmiger Provinzroman, in dem bei aller Abgelegenheit des Osgoodschen Hofes kaum etwas unbeobachtet und ungesühnt bleibt. Man trifft sich im Leben stets mehr als einmal.

An „Oben in den Wäldern“ hat mich am stärksten die Wellenbewegung beeindruckt, in der Menschen sich die Natur aneignen, irgendwann scheitern, so dass die Natur sich wieder Raum zurückerobern kann. Das Erzählen u. a. über Bäume, die mit ihrer Lebensspanne und durch ihre Nachkommen etwas Menschliches haben, finde ich in Masons neuem Schmöker entschleunigend – für Leser:innen, die Matrix-Strukturen ertragen können.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 24. Februar 2024 um 11:25

Wie beurteilst du die Geister in der Geschichte?

Buchdoktor kommentierte am 24. Februar 2024 um 11:54

Ich halte sie für Erziehungsinstrumente, wie im Märchen, um Botschaften zu transportieren, aber auch für Symbole für Unausgesprochenes.  In der nicht ungefährlichen Gegend muss man lernen, im Wald und mit ihm zu überleben, Fehler können tödlich sein;  Geisterglaube kann das transportieren.

wandagreen kommentierte am 24. Februar 2024 um 11:59

Ein interessanter Gedanke .. !!! die Geister waren allerdings ziemlich aktiv, bis dahin - dass sie Leute ermordet haben! Und sind wir nicht in Massachusetts anstatt in Maine? Just saying.

Emswashed kommentierte am 24. Februar 2024 um 14:21

Eure beiden Rezis (@Buchdokotr, @Wanda) machen neugierig, gerade weil sie so unterschiedliche Perspektiven haben.