Rezension

Die Macht der Geschichte

Mein Name ist Judith - Martin Horváth

Mein Name ist Judith
von Martin Horváth

Bewertet mit 2 Sternen

Durch einen Anschlag auf den Hauptbahnhof hat der Protagonist León Kortner, der in diesem Fall auch selbst Autor ist, seine schwangere Frau und auch seine Tochter verloren. Er führt nun ein recht einsames Leben, bis eines Tages das zehnjährige Mädchen namens Judith in seiner Küche auftaucht und sich darüber beschwert, dass er ihr Essen entsorgt hat. Zunächst wirkt er irritiert, doch nach und nach dämmert es ihm. Sie meint die Kekse und Obstreste unter dem ehemaligen Bett seiner Tochter, die er gerade erst neulich entdeckte und entsorgte. Judith ist ein recht wunderliches Kind. Sie taucht hin und wieder plötzlich auf, sitzt dort mit ihrer roten Mütze und dem altmodischen Wollmantel, den sie nie ausziehen will. Sie traut sich nicht vor die Tür, weil sie behauptet Jüdin zu sein und die Welt da draußen so gefährlich sei. Und auch der Buchladen im Haus gehöre ihrem Vater. Doch diesen gibt's schon lange nicht mehr, denn die Kleins wurden damals von den Nazis vertrieben... 

"Die Stahlkammer ist geschlossen und geöffnet. Judith lebt ist tot ist eine alte Frau ist ein junges Mädchen ist ein Geist. Die Stahlkammer ist geschlossen, es gibt niemanden mehr, der sie öffnen könnte. Die Stahlkammer existiert nicht. Judith existiert nicht. Und es gibt niemanden, der von ihrem Leben und Sterben erzählen könnte."

Mit "Mein Name ist Judith" hat Martin Horváth einen interessanten Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschaffen. Dass Autoren ihre Figuren 'treffen', mit ihnen während der intensiven thematischen Auseinandersetzung reden, ihnen zuhören, sie sehen, ist ein Gedanke, den man immer wieder hört. Sein Protagonist interessiert sich für die Familie Klein, will ihnen einen Roman widmen und nach und nach verschwimmen die Zeiten. Er setzt sich aktiv mit seinem eigenen Trauma und dem Verlust auseinander, aber auch mit Gräueltaten der damaligen Zeit. Horváth verwebt sehr geschickt den Nationalsozialismus mit der heutigen terroristischen Bedrohung und obwohl es sich hierbei um einen fiktiven Roman handelt, so hat er doch einen großen Hang zur Realität. Eine berührende, nachdenkliche Geschichte, die einem die Wertigkeit des Lebens noch einmal vor Augen führt. Zwar kann ich nicht sagen, dass ich diesen Roman großartig finde und trotz seiner eindringlichen Geschichte, hat Horváth mich nicht wirklich erreicht.  Mir persönlich war es teilweise etwas zu verworren, zu still, zu fraglich. Und auch, wenn sich diese Gedankenstränge zum Ende hin verbinden und etwas mehr Klarheit entsteht, hat mir generell etwas gefehlt. Diese Annäherung bzw. teilweise den Gedanken, die damalige und mit der heutigen Bedrohung zu verbinden finde ich vom Ansatz her total faszinierend und das transportiert auch die Beklommenheit in die heutige Zeit. Und doch hatte ich immer das Gefühl, der Autor möchte zu viel auf einmal erreichen. Die gedanklichen Sprünge. Erinnerungen, Judith als Geist, der hin und wieder auftaucht, die Geschichte der Familie Klein, seine abmildernden Geschichten/Briefe... alles zusammen ist recht viel und das trübt dann auch meine Begeisterung. Die Erinnerung lebt weiter  und man muss sich aktiv damit auseinandersetzen, um freier mit dem Leben umzugehen und das Jetzt mehr zu schätzen. Vielleicht ist für viele "Mein Name ist Judith" da ein großartiger Roman, der einem das Menschliche der Geschichte, die Möglichkeiten der abmildernden Erinnerung und das Leben damals und heute noch einmal näher bringt; für mich gibt's da leider deutlich bewegendere Ansätze.

"Mit jedem Menschen, den die Nazis ermordeten, starb auch ich. Sechs Millionen Mal."