Rezension

Distanz und Nähe

Aller Liebe Anfang
von Judith Hermann

Bewertet mit 4 Sternen

Vor allem der Schreibstil von Judith Hermann macht diesem Roman aus. Kurze Sätze. Keine wörtliche Rede. Alles ist knapp, kurz und kühl aber im Text steckt trotzdem viel Emotion. Als Leser ist man nah bei Hauptcharakter Stella. Man hat Teil an ihren Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Zweifeln. Es passiert gar nicht viel im Laufe der Geschichte. Und trotzdem fängt alles irgendwann an bedrohlich zu wirken. Die leere Straße, die unbekannten Nachbarn und vor allem das schon fast als Stillleben beschriebene Haus und der Garten. Stillstand, Bewegungslosigkeit, sich Fügen. Das scheint Stellas Leben zu sein. Immer wieder gibt es Fragen danach wie es so gekommen ist und ob sie glücklich ist. Aber noch nicht einmal Stella selbst scheint darauf eine Antwort zu finden. Sie scheint seltsam distanziert von ihrem eigenen Leben. Hermanns minimalistischer Stil unterstreicht Stellas Feststecken und Zweifeln und ihre diffuse Angst so gut, dass es fast unheimlich ist. Da ist ein dahingesagter Satz der kleinen Ava und man bekommt fast Gänsehaut.

Nach den ersten Sätzen war ich eher wenig begeistert. So trost- und emotionslos wirkte alles. Aber die Geschichte entwickelte dann gerade dadurch ihren Sog. Wer sich nicht ganz sicher ist, ob Aller Liebe Anfang das Richtige ist, dem würde ich auf jeden Fall eine Leseprobe empfehlen.

Einziger Kritikpunkt war für mich das Ende, das mich leider weniger begeistert hat. Für mich war es nicht ganz stimmig und irgendwie seltsam. Ich hatte das Gefühl irgendetwas essentielles verpasst zu haben. Vielleicht habe ich das ja auch.

Den Stil von Aller Liebe Anfang fand ich interessant und mal eine schöne Abwechslung. Auch die Länge des Romans war passend. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Sprachlich steckt erstaunlich viel in diesem Buch. Wenn man will, kann hier viel entdecken. Auf Dauer wäre mir die Schreibe gleichzeitig zu anstrengend und zu glatt, aber hier hat alles gepasst. Und in Zukunft werde ich sicher nochmal zu einem „Hermann“ greifen.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 08. Juni 2016 um 09:21

Hey, wie toll! Das klingt super - ich mag sowas total gern, wenn Inhalt+Sprache eine "Symbiose" bilden sozusagen ;) Ich habe das Buch als Hörbuch seit kurzem (ungekürzt) und bin nun schon sehr gespannt, ob beim Zuhören auch so viel hängen bleibt. Danke für die schöne Rezi! ♥