Rezension

Ein fantastisches Werk in jedem Sinn des Wortes

Rungholt -

Rungholt
von Ann-Kathrin Wasle

Bewertet mit 5 Sternen

>>>MEINE LESEEMPFEHLUNG AUF 1 BLICK Ein "sagenhafter" Roman, dem eine fantastische Geschichte von der Nordseeküste verwoben mit historischen Elementen zugrunde liegt, der mich fasziniert und fesselt wie der Gesang der Sirenen. Handwerklich fein ausgearbeitete Literatur, die spielend leicht Genregrenzen überspringt und ein großes Publikum verdient - daher 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung.

INHALT

1362 versank die Stadt Rungholt im Meer, zwischen Kirchturm bzw. Leuchtturm gelegen, also im Spannungsfeld von Hansehandel und Kommerz sowie Glaubensfragen – sie wurde zur Legende.

1907 ist Janna, vertraut mit den Sagen der Küste ihrer Heimat, plötzlich konkret damit konfrontiert: Die fahrende Händlerin Sigal logiert im Gasthaus ihrer Eltern. Sie besitzt ein uraltes Buch, das sie nicht entziffern kann. Janna liest ihr daher den alten Text vor – Sigal übersetzt. Wir als Leser hören zu und vor uns entfaltet sich auf dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse abgebildet, was kurz vor dem Untergang von Rungholt mit Lenore, Thorstein und Lara geschah.

Gegenwart und Vergangenheit scheinen einander allmählich fließend zu berühren, verbunden durch das Meer, das einen Eisberg an Jannas Heimatstrand geschwemmt hat, der erstaunlicherweise Geheimnisse aufkochen lässt, die auch das Verschwinden von Jannas Zwillingsbruder Nils betreffen …

Einordnung des Romans

Beim Lesen von Ann-Kathrin Wasles Roman "Rungholt" bin ich definitiv fremdgegangen. Normalerweise tobe ich mich in allen möglichen Spielarten des Genres Romance aus. Und was habe ich in ihrem Werk gefunden? Ein ganzes Kaleidoskop von Genres!

„Rungholt“ ist definitiv ein historischer Roman, sogar mit zwei Zeitebenen in der Vergangenheit. Eine davon wird uns als Tagebuch vorgestellt, also quasi als Autobiografie. Gleichzeitig gibt es übernatürliche Elemente, weshalb man das Werk ganz generell auch als Fantasy einordnen kann. Frauenthemen – wie die Unabhängigkeit von Frauen im Lauf der Zeiten – spielen eine wichtige Rolle und qualifizieren den Roman durchaus als sog. feministische Literatur. Ich vermute ganz stark, dass Spökenkiekerei kein eigenes Genre darstellt, aber die Sagen und Legenden die rund um die Nordsee im trüben Wasser kalt vor sich hin dümpeln, spielen eine zentrale Rolle in Wasles Roman. Sogar ein Bezugspunkt zu Homers Odyssee wird eingestreut.

Plot

Etwas zur Handlung zu sagen, ohne zu viel zu verraten, fällt mir schwer. Nur dies möchte ich feststellen: Das Buch behandelt mich als Leserin ausgesprochen fair. Es ist stets deutlich, auf welcher Zeitebene ich unterwegs bin – kein Rätselraten oder mühsames Entschlüsseln. Wie die Autorin am Ende zu einer Auflösung findet, war für mich ausgesprochen überraschend – das mag ich, da es sich heutzutage oftmals so verhält, dass sich das Ende einer Story ab Seite zwei eines Romans bereits ahnen lässt. Hier nicht. Pluspunkte auch dafür.

Handwerkliche Aspekte

Es handelt sich insgesamt um eine handwerklich ausgezeichnete Arbeit, was Sprache und Orthografie angeht. Ich bin alt, auch altmodisch und schätze die Sorgfalt, die hier deutlich wird, ebenso wie die Fähigkeit, sich differenziert und plastisch auszudrücken, weil der Wortschatz der Autorin das hergibt!

Ein dichtes Geflecht von Beziehungen durchzieht den gesamten Roman, sei es im Hinblick auf besondere Daten (Ostern, Johannisnacht, Silvester), Namen, Orte oder bestimmte Attribute von Personen – viel von alledem besitzt zudem eine tiefere oder übertragene Bedeutung. Allein deshalb lohnt das Werk sicher mehr als eine Lektüre.

Mein ganz persönlicher Leseweg durch „Rungholt“

Am Beginn des Romans fühlte ich mich nicht wirklich wohl damit. Bisweilen habe ich mich durchaus mit Ungeduld gefragt, ob denn tatsächlich schon wieder ein Spaziergang ans Meer geschildert werden muss, der typische Nordseemotive vermittelt. Zunächst war ich mit dem Erzähltempo nicht zufrieden: zu langsam. Als moderner Mensch bin ich ganz andere Geschwindigkeiten gewohnt.

Ja, Ann-Kathrin Wasles Roman entschleunigt zu Beginn durch ausführliche Schilderungen auch kleiner Begebenheiten, die nicht wirklich handlungstragend oder wichtig sind. Dies zusammen mit den ständigen Begegnungen mit der See sorgte im Verlauf der Lektüre dafür, dass sich in mir als Leserin eine gewaltige Neugier, eine große Spannung aufbaute und aufstaute. Hier, da und dort erhielt ich Hinweise darauf, dass bestimmte Facetten im Text wichtig sind; ich habe sie gesammelt und hatte schließlich ein ganzes Kaleidoskop potenzieller Indizien im Kopf – begierig darauf, zur Auflösung zu gelangen und die Versatzstücke wie Puzzleteile an den richtigen Platz im Gesamtbild fallen zu lassen. Die Wirkung dieses Arrangements schwemmte mich wie ein reißender Strom durch die letzten 200 Seiten: eine geistige Sturmflut. Es hat sich also gelohnt, am Beginn mit dem Werk zu hadern, denn, was mich zunächst störte, hat dazu beigetragen, gegen Ende einen gewaltigen Leserausch auszulösen.

Wer je an der Nordsee die stille Gewalt der steigenden Flut, ein Gewitter oder gar einen Sturm erlebt hat, findet viel von der Faszination, die dieses geheimnisvolle, dunkle und kalte Meer ausübt, in "Rungholt" treffend widergespiegelt – ein Meer, das mich persönlich selbst beim Lesen darüber in seinen Bann zieht. (Ja, ich bin ein bekennender Nordseefan. Da musste mich das Werk nicht erst überzeugen. Mag sein, meine Begeisterung hat also mit einer gewissen Befangenheit zu tun.)

Nicht überall empfand ich die Handlung als plausibel. Aber muss mich das stören, wenn auch übernatürliche bzw. fantastische Elemente darin vorkommen? Nein. Alles in allem habe ich mich gut unterhalten gefühlt und einmal mehr sehr bewusst im Kontrast zu den im Buch auftauchenden Frauenfiguren meine heutigen Freiheiten und die Möglichkeiten zu selbstbestimmtem Handeln geschätzt.

Die Entschleunigung hat mir zwar zunächst nicht gefallen, aber gutgetan. Die Fantasy-Elemente haben meinen sonst doch eher nüchternen Alltag daran erinnert, um wie viel reicher das Leben wird, wenn ich ihm Raum für Sagen und Legenden zugestehe.

Die Katastrophe, die seinerzeit eine ganze Stadt untergehen ließ, war ein Naturereignis. Die menschliche Katastrophe zwischen den Hauptfiguren Lenore, Thorstein und Lara, die sich laut Roman im alten Rungholt abspielte, stellt die grausamen Kräfte dar, die freigesetzt werden, wenn eine Liebe unerwidert bzw. unglücklich bleibt.

Fazit

„Rungholt“ ist ein Roman, der ein breites Publikum ansprechen sollte, weil er viele Facetten besitzt. Lesen lohnt sich und bietet spannende Unterhaltung! Daher gerne fünf Sterne.

PS

Gestört hat mich die Tatsache, dass die ältere Zeitebene, als Tagebuch bezeichnet, in der dritten Person die Ereignisse schildert. Ich bin von Tagebüchern einen Ich-Erzähler gewohnt, der ausgesprochen unmittelbar berichtet und hätte das hier gern auch so serviert bekommen. Warum sich die Autorin anders entschieden hat, hat sich mir persönlich nicht erschlossen.