Rezension

Ein faszinierendes Stück Medizingeschichte, leicht lesbar und gleichzeitig informativ und berührend geschildert.

Der Horror der frühen Chirurgie -

Der Horror der frühen Chirurgie
von Lindsey Fitzharris

Bewertet mit 5 Sternen

»Dann, etwa siebenhundert Meter vor dem Schützengraben, verspürte er einen heftigen Schlag im Gesicht. Eine Kugel war durch seine Wange geschlagen und auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Blut strömte ihm aus Mund und Nase, tränkte seine Uniform. Clare schrie, aber der Schrei blieb stumm. Sein Gesicht war so schlimm verletzt, dass es sich nicht einmal vor Schmerz verziehen konnte.«

Die Schlachtfelder des 1. Weltkriegs forderten unzählige Opfer. 8 – 10 Millionen Soldaten starben in der Zeit von 1914 bis 1918, mehr als doppelt so viele wurden, oft schwer, verwundet. Zu diesen schwer verwundeten gehörten die Gesichtsversehrten, über deren furchtbares Schicksal ich bislang noch nie so richtig nachgedacht hatte. Doch tatsächlich gehörten diese armen Menschen zu den größten Verlierern, denn während einem Mann, der ein Bein oder einen Arm verloren hatte, mit Mitgefühl begegnet wurde, riefen ihre entstellten Gesichter sehr häufig Ablehnung und Ekel hervor. Zudem war der Genesungsprozess extrem leidvoll und stellte nach der Verletzung auf dem Schlachtfeld nicht selten ein erneutes Trauma da.

 

Wenn es denn überhaupt zu einem richtigen Genesungsprozess kam. Die Ärzte, die versuchten, möglichst viele Menschen zu retten, mussten sich meist auf einfache Behandlungen beschränken. Wenn ein junger Soldat ein riesiges Loch im Gesicht hatte, wo mal Nase und Kiefer gewesen waren, dann wurde das einfach ordentlich zugenäht, um die Blutungen zu stoppen. Wie der arme Mann anschließend aussah und ob er noch in der Lage war, zu kauen, darum konnte man sich einfach nicht kümmern.
»Die Heilkunde stand der Wissenschaft der Zerstörung ratlos gegenüber.«

 

An dieser Stelle kam Harold Gillies ins Spiel, ein junger, höchst motivierter und engagierter Chirurg, der sich zum Ziel gesetzt hatte, diesen Menschen wieder ein Gesicht zu geben, das funktionierte und ordentlich aussah. Er gründete eines der weltweit ersten Krankenhäuser, das sich auf Gesichtsrekonstruktionen spezialisiert hatte und leistete großartige Pionierarbeit.

 

Lindsey Fitzharris, deren Buch über den „Horror der frühen Medizin“ ich schon verschlungen hatte, befasst sich in diesem Sachbuch mit den Anfängen der plastischen Chirurgie bzw. der Schönheitschirurgie. Der Leser begleitet Gillies und weitere Kollegen bei der Arbeit und auf der Seite der Patienten auch mehrere namentlich genannte Gesichtsversehrte. Wie so oft wirken die Schilderungen besonders intensiv und berührend, wenn Einzelschicksale aus der großen Masse heraus beschrieben werden.

 

Fasziniert verfolgte ich die detaillierten Beschreibungen verschiedener Eingriffe. Welch großen Mut haben diese ersten plastischen Chirurgen bewiesen! Schließlich konnten sie nicht zu einem Lehrbuch greifen und auf erprobte Verfahren zurückgreifen, sondern mussten, teils sogar spontan, eigene Gedanken umsetzen und nach immer neuen Methoden suchen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen oder zu verbessern. Das alles ist, man kann es sich leicht denken, sehr blutig und nicht für empfindliche Leser geeignet. Mir jedoch wurde jetzt so richtig bewusst, dass die Anfänge jeder heutigen Lidstraffung oder Fettabsaugung auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs lagen.

 

Fazit: Ein faszinierendes Stück Medizingeschichte, leicht lesbar und gleichzeitig informativ und berührend geschildert. Wenn ich überhaupt einen Kritikpunkt habe, dann ist es der für meinen Geschmack unpassende und reißerische Titel des Buchs.