Rezension

Ein gewaltiges und nachhaltiges Meisterwerk

Cyril Avery
von John Boyne

Bewertet mit 5 Sternen

Ein gewaltiges und nachhaltig wirkendes Meisterwerk ist dem irischen Bestseller-Autor John Boyne (47) mit seinem hervorragenden Roman „Cyril Avery“ gelungen, der im Mai im Piper-Verlag erschien. In leichtem Erzählton nimmt sich Boyne auf 740 Seiten eines auch in unserer doch scheinbar so aufgeklärten Gesellschaft noch immer für viele schwierigen und heiklen Themas an – der Homosexualität und Homophobie. Unbegreiflich ist es deshalb, dass der Verlag in Klappentext des Buches nicht ein einziges Mal diese Begriffe nennt, sondern nur oberflächlich in eine Handlung einführt, die dem Autor doch nur als Mittel zum Zweck dient.
Boynes Hauptfigur Cyril Avery ist schwul. In seiner ersten Lebenshälfte wird Cyril von der Gesellschaft als Krimineller verachtet, in der zweiten als Aussätziger gemieden. In einem für dieses Thema erstaunlich lockeren, oft humorvollen, manchmal ironisch-lakonischen Sprachstil – auch dem Übersetzer Werner Löcher-Lawrence gebührt hier ein großes Lob! – gelingt es dem Autor, uns dieses komplexe Thema auf eine sehr tiefgehende, trotzdem leicht verständliche und empathische Weise nahezubringen, uns am Denken und Fühlen homosexueller Männer, an ihren leidvollen Erfahrungen im Wandel der Zeit teilhaben zu lassen.
In leicht lesbarer Schilderung des unruhigen und aufreibenden Lebens des Iren Cyril Avery lernen wir das katholische Irland von 1945 bis in die Sechziger Jahre kennen, in dem Staat und Politik noch von der Kirche gelenkt werden. Wir begegnen religiösem Eifer, einer oft damit einhergehenden Doppelmoral und provinzieller Rückständigkeit. Einerseits steht dort Homosexualität unter Strafe, und Schwule werden öffentlich von der Polizei gejagt. Andererseits wird Liebe unter Männern als schlechtes Gedankengut abgetan oder schlicht ignoriert. „In Irland gibt es keine Homosexuelle“, lässt Boyne einen Arzt in den Sechziger Jahren feststellen. Cyrils zweite Station ist das liberale Holland der Siebziger Jahre. Dort findet er endlich einen festen Partner, zu dem er sich öffentlich bekennen darf. Doch er sieht auch die Kehrseite solcher Freizügigkeit – die Sexsklaverei mit Strichjungen. In den Vereinigten Staaten der Achtziger Jahre wiederum versetzt der todbringende Aids-Virus die Gesellschaft in Schrecken – eine „Schwulenseuche“, wie der Großteil der Gesellschaft glaubt. Auch dort werden Homosexuelle wieder pauschal ausgegrenzt und geächtet. „Reagan kann Schwule nicht ausstehen. Er wird nicht mal zugeben, dass es sie gibt“, wird dem Präsidenten nachgesagt.
Erst im neuen Jahrhundert – viele Jahre nach seiner Rückkehr in die irische Heimat – erfährt Cyril Avery endlich als 70-Jähriger, nur wenige Wochen vor seinem Tod, seinen seelischen Frieden. Nach einer Volksabstimmung ist seit 2015 die gleichgeschlechtliche Ehe in Irland gesetzlich erlaubt.
John Boynes Roman ist ein emotionales, beherztes Plädoyer für Toleranz gegenüber Minderheiten, egal ob sexuell, ethnisch oder religiös begründet. Ihm ist es mit „Cyril Avery“ auf eindrucksvolle Art gelungen, das sonst eher in Sachbüchern oder wissenschaftlichen Werken behandelte Thema gleichgeschlechtlicher Liebe in einer spannenden Handlung darzustellen, die jeden ansprechen und viele zum weiteren Nachdenken anregen dürfte.